Der Band ist in die Reihe der zahlreichen Ausstellungen und Tagungen sowie der sie begleitenden Publikationen einzuordnen, die sich im Jahr 2006 anlässlich des 200. Jahrestages seiner Auflösung mit dem Heiligen Römischen Reich beschäftigten. Warum das Alte Reich Anfang des dritten Jahrtausends zu einem derart bedeutenden deutschen Erinnerungsort wurde, ist eine überaus interessante Frage und wird sicherlich auch Gegenstand kulturhistorischer Untersuchungen werden.
Das Reich der großen und vielen kleinen Stände als Vorbild für Europa und das Reich als Gemeinwesen oder gar Staat der deutschen Nation sind mögliche, wenn auch umstrittene Interpretationen deutscher Geschichte vor 1806, die für die Gegenwart durchaus relevant sind. Auch der vorliegende Band hat, wie im Vorwort deutlich gemacht wird, aktuelle gesellschaftspolitische Ziele. Soll mit dem Thema doch bewusst ein Kontrapunkt zum ebenfalls 2006 gefeierten 200-Jahre-Jubiläum des modernen bayerischen Staates gesetzt werden und "mit dem Verweis auf die Geschichte" ein innerbayerischer Föderalismus angemahnt werden, der die ehemals nichtwittelsbachischen Regionen Franken und eben (Ost-)Schwaben adäquat berücksichtigt (1f.).
Die besonderen Beziehungen des schwäbischen Raums zu Kaiser und Reich im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit - mit der Präsenz der Staufer und später der Habsburger, der unerreichten Vielzahl an Ständen und einem vor allem im 17. und 18. Jahrhundert äußerst aktiven Reichskreis - brauchen kaum begründet zu werden. Sie sind Gegenstand zahlreicher Studien, wie sie etwa jüngst von Rolf Kießling und Sabine Ullmann in der Reihe Forum Suevicum herausgegeben oder auch im 100. Band der Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben vorgelegt wurden. [1]
Trotz des etwas missverständlichen Titels geht es in dem vorliegendem Buch weniger darum, die verschiedenen Aspekte von "Reich und Region" herauszuarbeiten. Im Zentrum stehen vor allem das 19. und 20. Jahrhundert und damit die Themen Erinnerung, Geschichtskonstruktionen und Identität. Gleichwohl bleibt der Band, vielleicht weil er nur sieben von ursprünglich 13 Vorträgen der ihm zugrunde liegenden Tagung im Druck vereint, recht inkohärent, was den Umfang der Beiträge, die behandelten Zeiträume und Themen anlangt.
Hans Eugen Speckers Beitrag zum Selbstverständnis der schwäbischen Reichsstädte kommt zu dem Ergebnis, dass sich diese weniger über ihre regionale Identität als vielmehr über ihre reichsstädtischen Qualitäten definierten. Peter Fassl beschäftigt sich in seiner Studie zur Kriegswahrnehmung in Schwaben während des langen Zeitraums vom 16. bis 19. Jahrhundert mit dem Wehrwesen im Südwesten des Reichs. Ob tatsächlich eine im Vergleich zu den großen Territorialstaaten wie Sachsen oder Bayern unterentwickelte Militärorganisation für die Verheerungen in Schwaben während einiger großer Kriege der Frühen Neuzeit verantwortlich war (35) oder nicht einfach dessen unglückliche geografische Lage nahe der Grenze zwischen Frankreich und dem Reich - ähnlich dem Königreich Ungarn zwischen den osmanischen und habsburgischen Herrschaftsblöcken -, müsste vielleicht näher diskutiert werden.
Relativ schwach ist der Bezug zu Schwaben im Artikel von Manfred Weitlauff, der in einem umfangreichen Beitrag den Konstanzer und Augsburger Domherrn Ignaz Heinrich von Wessenberg als letzten Vertreter der Reichskirche und kirchlichen Reformer vorstellt. Ebenfalls recht speziellen Themen, nämlich der Säkularisation des Reichsstifts St. Ulrich und Afra in Augsburg im frühen 19. Jahrhundert und der Geschichtsphilosophie des Dichters Konrad Weiß (1880-1940), widmen sich die kurzen, mit zahlreichen Originalzitaten durchzogenen Studien von Wilhelm Liebhart und Rainer Jehl. Einen strukturelleren Ansatz verfolgt hingegen Wolfgang Wüst in seiner Untersuchung des schwäbischen Adels nach dem Ende des Alten Reiches, bei dem es sich eher um einen Problemaufriss und um die Darlegung von Forschungsperspektiven handelt als um eine Gesamtinterpretation.
Der letzte, recht umfangreiche Beitrag stammt von Elke Seefried. Die Autorin analysiert hier die Abendlandideologie im Augsburg der Nachkriegszeit. Diese fand ihren Höhepunkt in den "Tagen Abendländischen Bekenntnisses" im Juli 1955 in Erinnerung an den 1000. Jahrestag der siegreichen Schlacht am Lechfeld gegen die heidnischen Ungarn. Zu Recht weist die Autorin auch auf die Bedeutung Wiens im Abendlanddiskurs des frühen 20. Jahrhunderts hin. Ein weiterer Vergleich mit Wien hätte darüber hinaus interessante Parallelen zwischen dem Jubiläum von 955/1955 und dem Gedächtnis an die Zweite Wiener Türkenbelagerung des Jahres 1683 ergeben. Auch an diese wurde immer wieder aufwändig erinnert, wobei im Zuge der Jubiläen von 1883 und 1933 der Abendlandbegriff (und sein Gegenpol die "asiatische Unkultur", die bereits 1933 auf die Sowjetunion bezogen wurde) eine zentrale Rolle spielte. [2] Die Bedeutung der Begriffe "Abendland" und "Heiliges Römisches Reich" - das es ja in der Mitte des 10. Jahrhunderts so noch nicht gab! - war, wie die Autorin zeigt, nicht stabil. Vielmehr wurde in den Jahren um 1930 die "katholisch-übernationale Abendland- und Reichsvision, welche den völkerverbindenden Charakter des Reiches und in dieser Traditionslinie protoeuropäische Vorstellungen betonte" (171), zunehmend von katholisch-(deutsch)nationalen Konzepten des Reichs abgelöst.
Es liegt in der Natur von Sammelbänden, dass sie von Leserin zu Leser in unterschiedlicher Weise selektiv rezipiert werden. Daher muss es auch kein Schaden sein, wenn sich die einzelnen Beiträge wenig aufeinander beziehen. Auffällig ist dennoch, dass die Leitkategorien des Bandes "Heiliges Römisches Reich" und "Schwaben" in den meisten Artikel eine nachrangige Rolle spielen. Insofern hat diese Zusammenstellung unterschiedlicher Aspekte südwestdeutscher Geschichte vornehmlich des 19. und 20. Jahrhunderts wenig mit dem Titel gemein und ist - unabhängig vom Wert der einzelnen Beiträge - doch wohl eher als Manifest aktueller schwäbischer Identitätssicherung zu lesen.
Anmerkungen:
[1] Rolf Kießling / Sabine Ullmann (Hgg.): Das Reich in der Region während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Forum Suevicum; 6), Konstanz 2005; Wolfgang Wüst / Georg Kreuzer / David Petry (Hgg.): Grenzüberschreitungen. Die Außenbeziehungen Schwabens in Mittelalter und Neuzeit (Zeitschrift des Historischen Vereines für Schwaben; 100), Augsburg 2008.
[2] Vgl. zusammenfassend Peter Rauscher: Die Erinnerung an den Erbfeind. Die "Zweite Türkenbelagerung" Wiens 1683 im öffentlichen Bewusstsein Österreichs im 19. und 20. Jahrhundert, in: Gabriele Haug-Moritz / Ludolf Pelizaeus (Hgg.): Repräsentationen der islamischen Welt im Europa der Frühen Neuzeit, Münster 2010, 278-305.
Peter Fassl / Rainer Jehl (Hgg.): Schwaben im Hl. Römischen Reich und das Reich in Schwaben. Studien zur geistigen Landkarte Schwabens. Historische Tagung anlässlich des Endes des Hl. Römischen Reiches vor 200 Jahren am 20./21. Oktober 2006, Augsburg: Wißner 2009, 216 S., ISBN 978-3-89639-684-6, EUR 22,80
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