Wer sich in der Geschichte der DDR mit Widerstand und Opposition befasst, wird nicht als erstes an die 1960er Jahre denken, da allgemein davon ausgegangen wird, dass sich nun, nach dem konfliktreichen vorangegangenen Jahrzehnt, die Verhältnisse im Schatten der Mauer stabilisierten. Dass jedoch auch die Ära zwischen dem Mauerbau und dem Führungswechsel von Ulbricht zu Honecker von widerständigem Verhalten geprägt war, verdeutlicht die Studie von Elke Stadelmann-Wenz. Dabei ist vieles von dem, was sie berichtet, nicht grundlegend neu: So sind, um nur zwei Beispiele zu nennen, die Proteste sowohl gegen den Mauerbau als auch gegen die militärische Intervention in der ČSSR 1968 bereits recht gut erforscht. Ihre Leistung besteht vor allem darin, das widerständige Verhalten von Teilen der ostdeutschen Gesellschaft in dieser Zeit auf der Grundlage der relevanten Quellen und Literatur systematisch erfasst und einer Neubewertung unterzogen zu haben.
Indem sie, inspiriert von den theoretischen Grundlagen der NS-Widerstandsforschung, durchgehend von "widerständigem Verhalten" spricht, wählt sie einen Begriff, der möglichst viele Aspekte "nicht normgerechten, politisch abweichenden Handelns und Denkens" (16) umfasst. Denn sie definiert dies als "Strategie [...], sich dem umfassenden Herrschaftsanspruch der SED zu entziehen, ihm etwas entgegen zu setzen, ihn zu beschränken und ihn zu begrenzen" (13). Der Begriff ist weit genug, um bei der Suche nach entsprechenden Aktivitäten und Haltungen nicht einengend zu wirken, hat aber auch die nötige Trennschärfe, so dass nicht jeder Konflikt, etwa innerhalb der SED-Führungsriege, darunter subsumiert wird.
Im ersten Teil wendet sich Stadelmann-Wenz den Anlässen für widerständiges Verhalten zu. Es geht dabei zunächst um den Mauerbau selbst, der Menschen zu aktivem Widerstand, zahlreichen Protesten - auch in Form von Arbeitsniederlegungen - und passiver Verweigerung - etwa bei den Kommunalwahlen am 17. September 1961 - veranlasste. Nur durch Verfolgung und massive Repression konnte das Regime die Lage unter Kontrolle halten. Zweitens behandelt die Verfasserin die nun stark erschwerte Option, sich den Verhältnissen in der DDR durch Flucht zu entziehen, einschließlich des Sonderfalls Desertion. Das stand, drittens, mit den Konflikten um die Militarisierung der DDR in engem Zusammenhang, die durch die Einführung der Wehrpflicht im Jahre 1962 verschärft wurden. Da zwischen 1962 und 1964 zwischen 1200 und 1400 junge Männer die Einberufung zum Wehrdienst ablehnten (und sich damit strafbar machten), richtete das SED-Regime ab 1964 in der NVA den Bausoldatendienst ein. Hätte Stadelmann-Wenz den Aufsatz von Peter Schicketanz von 1997 berücksichtigt [1], wäre ihr hier nicht das Fehlurteil unterlaufen, dass man damit einen "anhaltende[n] Konflikt mit den Kirchen" (84) vermeiden wollte. Zuzustimmen ist ihr allerdings, wenn sie der Verweigerung von Wehrerziehung und Wehrdienst sowie dem Bausoldatendienst langfristig große Bedeutung "für die Entwicklung von oppositionellen Strukturen in der DDR" (91) zuspricht. Denn über Arbeitsgruppen und Friedensseminare unter dem Dach der evangelischen Kirche konnten ehemalige Bausoldaten ihre Kritik an der Militarisierung der DDR an die Öffentlichkeit tragen.
Den bedeutendsten Anlass zu Protesten und den unterschiedlichsten Formen von Unmutsbekundungen bot schließlich die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. Das widerständige Verhalten kulminierte damals in vereinzelten, spontanen Protestmärschen in verschiedenen Städten der DDR. Stadelmann-Wenz legt zutreffend dar, dass vor allem Jugendliche protestierten; sie erwähnt freilich nicht, dass dabei weniger Studenten als Arbeiter hervortraten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang ihr Hinweis, dass es sich "nun nicht mehr um einen generellen oder fundamentalen Widerspruch gegen das sozialistische System" handelte, sondern um einen "systemimmanente[n] Widerspruch", der sich später verstärken sollte (103).
Im zweiten Teil untersucht sie zentrale Konfliktfelder dieser Zeit, wobei sie Konflikten in Industrie und Landwirtschaft sowie mit Jugendlichen genauer nachgeht. Nach dem Mauerbau war unter den Arbeitern eine relativ hohe Streikbereitschaft vorhanden, die das Regime als klassenfeindliche Agitation zu stigmatisieren suchte. 1962 wich es aber vor den anhaltenden Protesten zurück; gleichzeitig wurde mit der Wirtschaftsreform, die den einzelnen Betrieben mehr Eigenverantwortung zubilligte, nicht mehr das Regime als Ganzes, sondern die Betriebsleitung von den Arbeitern als Gegner wahrgenommen, die wiederum bereit war, auftretende Konflikte möglichst rasch zu lösen. In den internen Berichten tauchte nun der "Klassenfeind" als Initiator solcher Arbeitskonflikte nicht mehr auf.
Unter der Landbevölkerung identifiziert Stadelmann-Wenz zwei Arten widerständigen Verhaltens: zum einen sozialen und ökonomischen Protest "als punktuelle Abwehr finanzieller Einbußen" und zum anderen die Verweigerung genossenschaftlicher Arbeit und das Beharren auf eigenem Land und Vieh, wobei "der bäuerliche Eigensinn eine wichtige Motivation" gewesen sei (136). Während ersteres Verhalten vor allem ehemaligen Land- und Industriearbeitern zugeordnet werden kann, ging letzteres meist auf die enteigneten Bauern zurück.
Die Konflikte zwischen Jugendlichen und dem Regime werden zu Recht als "Ausdruck eines Wertewandels" (234) bezeichnet, wie er sich auch im Westen vollzog. Anders als im Westen hatten die Jugendlichen in der DDR jedoch nur eng begrenzte Möglichkeiten für die Verwirklichung ihrer eigenen Vorstellungen. Nonkonformes Verhalten stieß fast immer auf staatliche Repressionen, was wiederum zu einer Eskalation auf Seiten der Betroffenen führen konnte: Ein Stück weit produzierte die DDR hier den gegen sie gerichteten Widerstand selbst.
Der dritte Teil befasst sich mit der politischen Strafjustiz, die als Reaktion auf widerständiges Verhalten zum Einsatz kam. Der anfängliche "Justizterror" flaute zwar ab, aber es kam Stadelmann-Wenz zufolge nicht zu einer grundlegenden Veränderung der repressiven Strafverfolgungspraxis. Wenn man jedoch die von ihr ausgewerteten Daten der Kriminalstatistik zugrunde legt, verschoben sich hier die Verurteilungen aufgrund von "Staatsverbrechen" hin zu "Straftaten gegen die Staatsorgane und die allgemeine Sicherheit"; überdies schuf die DDR mit dem Mauerbau einen "neuen Straftäter": "den jugendlichen 'Grenzdurchbrecher'" (215). Eine Akzentverschiebung fand ebenfalls hinsichtlich der verfolgten vermeintlichen Regimegegner statt: Vor dem Mauerbau galten Personen vor allem aufgrund ihrer traditionellen sozialen Stellung, sei es als Bauern, Unternehmer oder Handwerker, als "Parasiten", während diese Bezeichnung danach zunehmend junge, unangepasste Menschen traf, die des "Rowdytums" und "asozialen Verhaltens" bezichtigt wurden.
Welche Auswirkungen hatte der Mauerbau insgesamt auf das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten? Das Herrschaftssystem blieb Stadelmann-Wenz zufolge auch nach 1961 "in höchstem Maße repressiv" (238). Da den gesellschaftlichen Akteuren Strukturen fehlten, die noch in den 1950er Jahren die Bildung von Gruppen erlaubt hatten, führte dies zu einer "Vereinzelung oder Individualisierung widerständigen Verhaltens" (238). Eine Ausnahme bildeten hier lediglich die Bausoldaten und Wehrdienstverweigerer, die bis in die 1980er Jahre reichende, widerständige Verhaltensweisen prägten. Dieser Bewertung kann man durchaus zustimmen. Mit dem Mauerbau wurde die DDR-Gesellschaft zwar zum Arrangement mit dem Staat gezwungen; einen breiten gesellschaftlichen Konsens konnte die ostdeutsche Diktatur jedoch auch bei geschlossenen Grenzen nicht herstellen.
Anmerkung:
[1] Peter Schicketanz: Die Einrichtung von Baueinheiten innerhalb der nationalen Volksarmee der DDR, in: Kirchliche Zeitgeschichte 10 (1997), 189-205.
Elke Stadelmann-Wenz: Widerständiges Verhalten und Herrschaftspraxis in der DDR. Vom Mauerbau bis zum Ende der Ulbricht-Ära (= Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2009, 265 S., ISBN 978-3-506-76746-2, EUR 39,90
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