Der von Petra Terhoeven herausgegebene Sammelband geht auf eine an der Universität Göttingen veranstaltete Vorlesungsreihe zur Geschichte Italiens zurück. Das Hauptproblem des Buches ist der Titel, denn der Band ist ganz vorwiegend dem 20. Jahrhundert und vor allem dem Faschismus gewidmet. Auch wenn er keine wirkliche Leitfrage aufweist, bietet er doch eine thematisch wie methodisch abwechslungsreiche Auswahl von zwölf Beiträgen aus den Federn etablierter und jüngerer Vertreter der deutschsprachigen Italienforschung.
Am fremdesten ist dem Band der Beitrag von Gabriele Clemens, der aber eine interessante und kaum beachtete Thematik untersucht, nämlich die wichtige Rolle des Adels in und für die italienische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Die Brücke zwischen Ottocento und Novecento bildet der Aufsatz von Martin Baumeister, der das Narrativ von der Erfolgsgeschichte der italienischen Juden seit dem 19. Jahrhundert, die erst mit den faschistischen Rassengesetzen von 1938 beendet wurde, in Frage stellt. Die alte These von Renzo De Felice, dass Italien vom Übel des Antisemitismus verschont geblieben sei, ist in der Tat schon längst überwunden. Was aber Baumeister zur Diskussion stellt, ist die spannende Frage nach der Virulenz des Antisemitismus im modernen Italien überhaupt.
Auf einer Linie mit dieser Thematik steht der Aufsatz von Frauke Wildvang, der sich mit der tragischsten Epoche in der Geschichte der italienischen Juden beschäftigt. Er untersucht die Implementierung antijüdischer Maßnahmen seit der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, die aufgrund des nationalsozialistischen Vernichtungswillens für tausende von italienischen Juden tödlich endete. Auch wenn Thema und Befunde keine Neuheit darstellen, ist die Perspektive doch bemerkenswert. Die Autorin reiht sich nämlich in die internationale Transfer- und Vergleichsforschung ein, die den italienischen Faschismus als einen dynamischen Prozess mit unterschiedlichen Entwicklungsstufen begreift.
Im Mittelpunkt des folgenden Beitrags von Aram Mattioli und Harald Dunajtschik steht die intensive Bautätigkeit in Bozen während Mussolinis Regime, die nicht nur als Ausdruck eines von den Faschisten offensiv geführten Symbolkrieges gedeutet, sondern auch hinsichtlich ihrer Funktion für Mussolinis Politik gegenüber Südtirol analysiert wird. In diesem Zusammenhang verliehen Marcello Piacentini und sein Architektenteam in gerade einmal fünfzehn Jahren der ehemals österreichischen Stadt ein gänzliches neues Gesicht. Bozen wird allerdings hier zu stark vom gesamtitalienischen Kontext isoliert, wodurch nur die autoritär-zentralistischen Aspekte der faschistischen Staatsarchitektur zuungunsten ihrer modernisierenden Züge in den Blick geraten.
Mit der Inszenierung als zentralem Element faschistischer Herrschaftspraxis befasst sich Wolfgang Schieder in seinem Beitrag zur "Audienz bei Mussolini", der zu dem Ergebnis kommt: "Wie die Massenversammlungen waren auch die Audienzen Teil des von der fabbrica del Duce planmäßig organisierten faschistischen Führerkultes, welche seiner Diktaturherrschafft zugrunde lag" (108). Der Mechanismus von Inklusion und Exklusion in der fabbrica del Duce macht deutlich, dass das von Mussolini entwickelte Audienzsystem keine reine symbolische Politik darstellte, sondern als politisch-instrumentelles Handeln in zeremonieller Form verstanden werden muss. Die Fokussierung auf das Audienz-System beleuchtet ein zentrales, von der Forschung bislang unbeachtetes Element von Mussolinis charismatischer Führerdiktatur, belegt aber auch durch die Konzentration auf die deutschen Besucher erneut die besondere Qualität der deutschen Faschismus-Perzeption in der Zwischenkriegszeit [1].
An die Kategorien der Weberschen Soziologie der Herrschaft lehnt sich auch Charlotte Tacke an. Sie dienen ihr zur Funktionsbestimmung von Paraderitualen. Am Beispiel der Jägerparade von 1932 zeigt die Autorin, dass die adunate die faschistische Herrschaftspraxis nicht nur abbildeten, sondern auch zu deren Verstetigung dienten. Darüber hinaus macht die adunata dei cacciatori deutlich, dass auch hier der Machtmissbrauch bis hin zur offenen Korruption festzustellen ist, der den Faschismus auf regionaler und lokaler Ebene kennzeichnete. Zu Recht weist Tacke in diesem Zusammenhang auf die Studien von Paul Corner hin. Ein Bezug auf die Arbeiten von Salvatore Lupo bleibt dagegen aus, was auffällt [2]. Abgesehen davon verfolgt Tacke hier einen sehr spannenden und fruchtbaren Ansatz: Die zentralistische Politik und die allgegenwärtige nationale Rhetorik konnten in der Tat nicht verhindern, dass die politische Wahrnehmung der breiten Bevölkerung in hohem Maße von lokalen Problemen dominiert wurde. Dies stellt allerdings keine Besonderheit der faschistischen Epoche dar, denn das Verhältnis von nationaler, regionaler und lokaler Ebene und damit verbunden des Trasformismo ist ein bis heute nicht gelöstes Problem des Landes, das seine Geschichte seit der Einigung kennzeichnet.
Der Linksterrorismus und das linke Milieu der Nachkriegszeit stellen einen weiteren thematischen Schwerpunkt der deutschen Italienforschung der letzten Jahre dar. Der Beitrag von Thomas Kroll beschäftigt sich in vergleichender Perspektive mit den zahlreichen italienischen Intellektuellen, die aus der Erfahrung des Faschismus die Notwendigkeit einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft ableiteten und nach dem Krieg in den PCI eintraten. Die kommunistischen Intellektuellen Italiens im Kalten Krieg zeichneten sich durch eine paradoxe Verbindung von demokratischem Engagement und vorbehaltsloser Verehrung der stalinistischen Sowjetunion aus. Erst ab der zweiten Hälfte der sechziger Jahre erwuchs dem PCI eine ernstzunehmende Opposition von links, die dessen Option für die parlamentarische Demokratie offen in Frage stellte. Die Entwicklung einer engen transnationalen Verbindung zwischen der extremen Linken in Italien und der Bundesrepublik Deutschland bildet den Hintergrund des Beitrags von Petra Terhoeven. Die Perzeption der "Nacht von Stammheim", des zentralen Ereignisses des "Deutschen Herbstes" 1977, durch die italienische Linke beschreibt sie als stark von nationalen Wahrnehmungsstrukturen geprägt. So gelingt es, die Geschichtsschreibung des deutschen Linksterrorismus zu entprovinzialisieren, ein für die wechselseitige Wahrnehmung beider Länder aufschlussreicher Ansatz.
Das linke Milieu bildet auch den Hintergrund von Malte Königs Beitrag zu dem 1978 vom italienischen Parlament verabschiedeten Gesetz über die Auflösung der psychiatrischen Anstalten, dessen Zustandekommen sich maßgeblich aus der politischen Atmosphäre der 1960er und 1970er Jahre erklärt. König thematisiert das Wirken Franco Basaglias, dem wichtigsten Exponenten der Antipsychiatrie neben Foucault. Verantwortlich für die Misere der italienischen Psychiatrie war ein Gesetz von 1904, das mit der Verfassung von 1948 kollidierte. "Nicht der Patient, sondern der Schutz der Gesellschaft stand im Mittelpunkt der alten Regelung" (232).
Den Konjunkturen der Erinnerung an den Faschismus und den Widerstand sind die Beiträge von Ina Brandt und Lutz Klinkhammer gewidmet. Der Beitrag von Brandt, der im Grenzbereich zwischen Erinnerungsgeschichte und der Geschichte des politischen Festes angesiedelt ist, thematisiert den 25. April als den für die kollektive Identität der Italiener prägenden Erinnerungsort der Nachkriegszeit. Auch wenn der 1946 eingeführte Nationalfeiertag seit dem Umbruch des italienischen Parteiensystems in den neunziger Jahren seine legitimatorische Funktion weitgehend verloren zu haben scheint, erweist er sich doch als sehr resistent gegenüber allen, von verschiedenen Seiten unternommenen Versuchen, ihn abzuschaffen. Auch bei Klinkhammer wird deutlich, wie stark die Erinnerung an Faschismus und Resistenza im heutigen Italien immer noch politischen Konjunkturen und Manipulationen unterworfen ist. Im Mittelpunkt seines Beitrags steht der ehemalige Neofaschist und aktuelle Parlamentspräsident Gianfranco Fini, der mittlerweile vom Verbündeten zum Intimfeind Berlusconis mutiert ist. Obwohl Finis Weg vom Neo- über den Post- zum Antifaschisten in den Augen Klinkhammers durchaus glaubwürdig ist, unterstreicht der Beitrag, dass auch die Erinnerungskultur der heutigen "neuen" Rechten die Italiener vor allem in einer Opferrolle sieht und damit von der Verdrängung eigener Schuld gezeichnet ist.
Christof Dipper nimmt zum Abschluss übergreifend den italienischen Weg in die Moderne in den Blick, ein Aufsatz, den der Autor als "Beitrag zu einer historischen Theorie der Moderne" (282) versteht. Dipper richtet seine Aufmerksamkeit in vergleichender Perspektive, vor allem mit Deutschland, auf zwei gesellschaftliche Kernbereiche: Familie und Technik. In diesen Bereichen, so seine These, sind die Unterschiede im gesamten Zeitraum größer als die Gemeinsamkeiten. Zu diesem Ergebnis kommt Dipper aber nicht durch die Kontrastierung mit einem Idealtypus der modernen Gesellschaft, an dem die unterschiedlichen gesellschaftlichen Erscheinungsformen zu messen wären. Der Autor plädiert vielmehr für ein "Vielfalt der Moderne" (299): die Besonderheiten, vor allem des italienischen Falles, werden nicht als Abweichungen von einem hypostasierten Fortschrittsmodell aufgefasst, sondern als Ergebnisse divergierender Modernisierungsprozesse verstanden.
Der vorliegende Band bietet ohne Zweifel eine Fülle von interessanten, anregenden und weiterführenden Ansätzen, Befunden und Deutungen. Durch das Fehlen einer Leitfrage, an der sich die Beiträge hätten abarbeiten können, wirken diese jedoch etwas zusammenhangslos. So wird auch das Versprechen des Klappentextes, zu klären, inwieweit Italien als "Laboratorium der Moderne" fungiert hat, nur teilweise eingelöst.
Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu W. Schieder: Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008.
[2] S. Lupo: Il fascismo. La politica in un regime totalitario, Roma 2000.
Petra Terhoeven (Hg.): Italien, Blicke. Neue Perspektiven der italienischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 302 S., ISBN 978-3-525-55785-3, EUR 32,90
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