Die Geschichte des Ersten Weltkrieges ist in den letzten zwanzig Jahren vor allem in Frankreich zum Schauplatz eines heftigen Kampfes geworden, bei dem sich - wie dies bei den großen Themen der Geschichte in unserem Nachbarland des öfteren zu beobachten ist - wissenschaftliche Kontroversen mit politischen Antagonismen und persönlichen Animositäten verbinden. Im Zentrum dieses erbitterten Historikerstreites steht der Begriff der "Kriegskultur", der culture de guerre, der von seinen Protagonisten Jean-Jacques Becker, Annette Becker und Stéphane Audoin-Rouzeau als "ein Korpus von Vorstellungen" verstanden wird, "das dem Krieg seinen Sinngehalt verleiht" (58) und damit die beispiellose Mobilisierung der Bevölkerungen für den Krieg, ihre Zustimmung zur jeweiligen politischen und militärischen Führung sowie ihr jahrelanges Durchhalten trotz größter Opfer ermöglicht habe. Die Kritiker dieser Interpretation, seit 2005 zusammengeschlossen im Collectif de Recherche International et de Débat sur la Guerre de 1914-18 (CRID), bestreiten vehement, dass es eine solche einheitliche culture de guerre im Sinne einer patriotischen Affirmation der gesamten Bevölkerung zum Krieg gegeben habe, vielmehr seien die Gesellschaften in ein "Netz von Zwängen" (17) eingebunden gewesen.
Die Herausgeber Arnd Bauerkämper und Elise Julien skizzieren in der Einleitung zum vorliegenden Sammelband die in Frankreich geführte Debatte, die von ihren Protagonisten unter den Schlagwörtern "Zustimmung" oder "Zwang" geführt wird, und nehmen sie als Ausgangspunkt für die Frage, wie es möglich war, dass die am Ersten Weltkrieg beteiligten Gesellschaften und Soldaten diesen Kampf vier Jahre lang "durchhielten". Bauerkämper und Julien selbst sprechen von "Kriegskulturen" im Plural und grenzen sich dadurch von der französischen Diskussion ab, die meist von der culture de guerre im Singular spricht und damit, wie es auch Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich in ihrem Beitrag (Wozu eine "Kulturgeschichte" des Ersten Weltkriegs?, 31-53) formulieren, eine "kollektive Überzeugung" meinen, die die Menschen so lange im Krieg gehalten habe. Dieses Theorem einer integralen Kriegskultur wird im anschließenden Beitrag (Der Erste Weltkrieg im Spiegel der Gegenwart, 54-77) von Nicolas Offenstadt, einem der Wortführer des CRID, als zu einseitig zurückgewiesen. Und die anschließenden Beiträge zu den einzelnen Staaten und Regionen (Deutschland, England, Belgien, Russland, Balkan, Italien, USA, deutsche Kolonien in Afrika, Osmanisches Reich) lassen deutlich werden, dass eine "Reduzierung der Komplexität des Krieges auf ein vereinfachtes binäres Denken" (Bruno Benvindo/Benoît Majerus: Belgien zwischen 1914 und 1918: ein Labor für den totalen Krieg, 127-148, Zitat 147) in die falsche Richtung geht.
Die einzelnen Beiträge haben einen sehr unterschiedlichen Charakter. Einige sind als quellenbasierte Mikrountersuchungen angelegt, wie etwa Steffen Bruendels gelungene Analyse der deutschen Kriegsanleihe-Plakate 1917/18, die als "Vor-Bilder des Durchhaltens" vorgestellt werden (81-108). Andere geben einen Überblick über einzelne Länder im Krieg wie Dietrich Beyrau und Pavel P. Shcherbinin mit ihrem Beitrag über "Russland im Krieg 1914-1922". Weitere Aufsätze befassen sich mit der Weltkriegs-Historiographie in einzelnen Staaten, wie Christoph Jahr mit seiner fulminanten Kritik am rückwärtsgewandten Revisionismus in der britischen Geschichtsschreibung (109-126) oder Oliver Janz, der den in Italien immer noch dominierenden, "von der politischen Linken geprägten historiographischen Konsens" rekapituliert (195-213, Zitat 203).
Erfreulich ist es, dass in dem Band bislang vernachlässigte Regionen in den Blick genommen werden. So präsentiert Jürgen Angelow "Neue Fragestellungen und Erklärungen" zum Krieg auf dem Balkan, wo eine spezifische "Militärkultur" eine besonders inhumane Kriegführung verursacht und zu einem "entgrenzten Krieg" geführt habe (178-194); Katja Wüstenbecker beleuchtet die "widerwillige Teilnahme" der USA am Ersten Weltkrieg (217-237) und hebt die durch den Krieg ausgelöste Brutalisierung und Polarisierung der amerikanischen Bevölkerung hervor; Stefanie Michels untersucht die "Totale Mobilmachung in Afrika" (238-259), ein weit ausgreifender Titel, der durch das begrenzte Untersuchungsgebiet (Kamerun und Deutsch-Ostafrika) und die doch sehr heterogenen Befunde nicht gerechtfertigt erscheint; Oliver Schulz schließlich widmet sich dem Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg (260-280) und stellt hier zahlreiche "weiße Flecken" in der Historiographie fest, die teilweise auf ein "Quellenproblem" (Unzugänglichkeit wichtiger Archive) zurückzuführen sind, während teilweise auch politische Gründe die Forschung behindert haben und noch weiter behindern.
Als Ergebnis ist festzuhalten, dass es keine einheitliche "Kriegskultur" gab, weder in einem einzelnen Land noch im internationalen Rahmen. Die Bedingungen, Einstellungen, "Handlungspraktiken", politischen und ideologischen Voraussetzungen waren sehr vielfältig, und demnach sind auch die Gründe für das "Durchhalten" nicht auf einen Nenner zu bringen. "Diese Einsicht", so schreiben die Herausgeber am Schluss ihrer Einleitung, "lässt eine nachträgliche, homogenisierende Mythologisierung des Durchhaltens nicht zu" (28).
Der anregende Band belegt somit zum einen die Fragwürdigkeit mancher revisionistischer Deutungsversuche und die Grenzen von unilinearen Forschungsparadigmen. Zum anderen zeigt er, wie lebendig die Erforschung des Ersten Weltkriegs derzeit ist, und welche Vielfalt von Fragen noch zu untersuchen und zu beantworten sind.
Arnd Bauerkämper / Elise Julien (Hgg.): Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914-1918, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 285 S., ISBN 978-3-525-36389-8, EUR 29,90
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.