Auf Englisch würde man dieses Buch "thought-provoking" nennen: Nicht weil man allen Thesen von Hillard von Thiessens Habilitationsschrift folgen könnte, sondern weil er in Abgrenzung von einer einseitigen Forschungstradition selbst einer gewissen Einseitigkeit huldigt und dadurch den Leser zur Positionierung zwingt. Thiessens Buch ist thought-provoking, und es ist, vielleicht ohne es in diesem Maße zu wollen, eine Provokation.
Thiessen analysiert die Beziehungen zwischen Spanien und dem Kirchenstaat während des inzwischen exzellent erforschten Pontifikats Pauls V. (1605-1621). Er untersucht damit die Beziehungen zwischen sehr ungleichen Gemeinwesen: Die spanische composite monarchy war eine europäische Großmacht und italienischer Hegemon, Rom eine Wahlmonarchie mit großer sozialer Mobilität, machtpolitisch eher unbedeutend, aber zeremoniell zentral und "der diplomatische Nabel der katholischen Welt" (40).
Thiessen weiß um die modernen Konnotationen der Termini Außenpolitik und internationale Beziehungen und spricht daher von "Außenbeziehungen" und "Außenverflechtung". Gegen die traditionelle institutionengeschichtliche und makropolitische Sichtweise stellt er eine akteurszentrierte Perspektive und fragt, "nach welchen spezifischen Logiken die in grenzüberschreitende Beziehungen involvierten Akteure handelten, welchen Denkmustern, Normen und Bindungen sie dabei folgten" (14). Die zentrale Antwort lautet: Sie folgten einer Logik und einem Ethos der Patronage, und zwar so weitgehend, dass die Unterscheidung zwischen Mikro- und Makropolitik sinnlos wird. Eine "autonome, der Staatsräson und ihren Logiken folgende eigene Sphäre der Politik" jedenfalls sei "noch kaum vorhanden" gewesen (36); staatliche und private Interessen waren nicht zu trennen.
Anschaulich beschreibt Thiessen den römischen Kardinalnepoten und den spanischen Günstling-Minister Lerma als Patronagemanager. Die Bedeutung beider Höfe als ranghohe diplomatische Zentren wird herausgearbeitet; die Gesandten und deren Patronageverbindungen werden eingehend vorgestellt. Die Nuntien Pauls V. besaßen entweder enge Bindungen an die Papstfamilie oder langjährige Spanienkontakte. Die spanischen Botschafter in Rom gehörten dem Hochadel an; Sonderbotschafter für spezielle Fragen waren meist Geistliche. Die spanischen Kardinäle spielten faktisch die Rolle weiterer Botschafter. Thiessen skizziert einen Idealtyp des Diplomaten vom "type ancien", der sich durch die persönliche Bindung an den Fürsten und das adlige Ethos auszeichnete. Dass Diplomaten als Patrone wie als Klienten agierten, wurde geradezu erwartet. Dahinter standen sachliche politische Erwägungen oft zurück.
Bei der Untersuchung der Patronagebeziehungen zwischen römischen Adelsfamilien und der spanischen Krone arbeitet Thiessen zwei Typen heraus: langfristige und wechselnde Loyalitäten. Die Familie Colonna steht für den Typus der Patronageanciennität; für Philipp III. waren die Colonna v.a. interessante Klienten, weil sie Festungen im Süden des Kirchenstaates besaßen. Die im 16. Jahrhundert frankreichfreundlichen Orsini dagegen legten sich auf keine Bindung mehr fest, sondern handelten eher situativ. En passant wird gezeigt, dass die zeitweilige Frankreichnähe der Kurie im 16. und 17. Jahrhundert immer mit Patronagebindungen zusammenhing. Eine stärkere Beleuchtung der Rolle Frankreichs wäre allerdings wünschenswert gewesen.
Die Generaltendenz der spanisch-römischen Beziehungen von 1605 bis 1621 zeichnet Thiessen als Wellenbewegung: Nach einem freundlichen Beginn und einer Phase der Abkühlung wurden sie ab 1615 wieder enger; das Auf und Ab folgt dabei Patronageinteressen: Lerma wollte Kardinal werden; die Borghese wünschten für die Zeit nach dem Pontifikat Pauls V. die spanische "grandeza". Damit wurde der Papst zum Patron Lermas, unausgesprochen aber auch zum Klienten Philipps III.; "Familienräson" überflügelte staatliche oder kirchliche Räson (381). Doch gab es durchaus patronagefreie Bereiche: Zeremoniell, kirchliche Jurisdiktion, dogmatische Fragen und Heiligsprechungen. Im Vergleich mit anderen außenpolitischen Leitorientierungen (Dynastie, Konfession, Staatsräson, Tradition) komme der Patronage aber eine mindestens gleichberechtigte Bedeutung zu.
Thiessen zeigt schlagend, dass frühneuzeitliche Außenbeziehungen ohne Patronage nicht verständlich sind. Darin überzeugt das Buch voll und ganz. Problematisch wird es, wenn daraus der implizite Schluss gezogen wird, dass sich Außenpolitik mehr oder minder in Mikropolitik erschöpft. Die Studie wirkt manchmal wie Politikgeschichte ohne Politik; mindestens: ohne politische Inhalte. Mehrfach betont Thiessen, dass das Patronageethos die Akteure "nicht zu blinden Automaten" machte, "die alternativlos bestimmte Programme konditionierten Sozialverhaltens abspulten" (371). Teile des Buchs machen allerdings genau diesen Eindruck. Das Menschenbild dieser Forschung erscheint mir zuweilen arg eindimensional und materialistisch. Vielleicht ist die Welt so. Mindestens aber konzentriert sich die Darstellung so stark auf Patronage, dass der Eindruck entsteht, dass es für die Akteure keine anderen Werte und Interessen gab oder geben konnte. Wie es in einer solchen Welt überhaupt zu Kriegen und konfessionellen Auseinandersetzungen kommen konnte, bleibt einigermaßen unverständlich.
Sowohl die Rolle der Patronage für die Akteure als auch der Idealtyp des Diplomaten vom type ancien überzeugen: Doch fehlt die systematische Erörterung einer mittleren Ebene, nämlich die der politischen Inhalte. Etwas unvermittelt taucht - sehr selten - das militärische Aktivierungspotential von Klientelbeziehungen auf; relativ blass bleibt das spanische wie römische Interesse an der katholischen Erneuerung und der Abwehr der protestantischen wie osmanischen Bedrohung. Die These, dass die "Neuausrichtung" der spanischen Außenpolitik direkt vor 1618 "eine Folge des Machtverlustes des Duque de Lerma und des Aufstiegs seiner Gegner" war (384), wird eher suggeriert als belegt. Der Zusammenhang von Patronage und Sachinteressen und -entscheidungen bleibt also im Halbdunkel. Systematischer wäre zu diskutieren, in welchem Verhältnis die expliziten Normen etwa der Botschafterinstruktionen zum Patronageethos standen. Die von Thiessen diskutierten Aufzeichnungen des spanischen Gesandten Aytona jedenfalls zeigen, dass die Themen in Papstaudienzen in der Reihenfolge große Politik - königliche Sonderinteressen - Anliegen Dritter behandelt wurden. Dies zeigt erstens eine deutliche, wenn auch nicht immer durchgehaltene Differenzierung zwischen Makro- und Mikropolitik und zweitens auch ein gewisses Bewusstsein für deren Rangordnung.
Schließlich: Wie generalisierbar sind die Befunde? Ist nicht die Bedeutung der Patronage gerade in Rom auch Surrogat für politisch-militärische Machtlosigkeit und der spezifischen Situation der klerikalen Wahlmonarchie geschuldet? Ist der spanisch-römische Fall tatsächlich nur eine besonders ausgeprägte "Variante eines gesamteuropäischen Phänomens" (121)? Ist die spanisch-römische Machtasymmetrie nicht noch viel zu schwach gezeichnet? Handelt es sich überhaupt um Außenpolitik, wenn Rom eine spanische "de facto colony" (Th. Dandelet) war?
Ein wichtiges und anregendes Buch - schon deshalb, weil es in einem hohen Maße Widerspruch provoziert.
Hillard von Thiessen: Diplomatie und Patronage. Die spanisch-römischen Beziehungen 1605-1621 in akteurszentrierter Perspektive (= Frühneuzeit-Forschungen; Bd. 16), Epfendorf: bibliotheca academica 2010, 528 S., ISBN 978-3-928471-82-4, EUR 69,00
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