sehepunkte 11 (2011), Nr. 4

Jan Palmowski: Inventing a Socialist Nation

"Heimat" - es gibt wohl nur wenige Vokabeln der deutschen Sprache, denen heute eine solche Bedeutungsschwere anhaftet. Dabei hat erst das späte 19. Jahrhundert den ursprünglich synonym mit technischen Bezeichnungen wie "Geburtsort" verwendeten Begriff mit einer fast mythischen Bedeutung aufgeladen. Dem Konzept "Heimat" und insbesondere dessen politischer Aufladung sind bereits eine Reihe von prominenten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gefolgt. Insbesondere internationale und renommierte Deutschlandforscher wie Celia Applegate, Alon Confino, Jennifer Jenkins, Jim Retallack und andere haben sich der kultur- und politikhistorischen Analyse dieses Phänomens mit Blick auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert angenommen: "Heimat" und "Nation" sind in dieser Zeit eine enge Verbindung eingegangen, deutlich konservativ konnotiert worden und dabei immer wieder auch ins Völkische und Rassistische abgeglitten. Bis heute scheinen sie nahezu unmittelbar aufeinander bezogen zu sein.

Haben auch Sozialisten Heimat und Nation? So könnte man das Grundanliegen des Buches von Jan Palmowski dann formulieren, wenn man die Frage auf die Zeit zwischen 1945 und 1990 konzentriert. Die Antwort ist zweigeteilt: Wo bereits Ende des 19. Jahrhunderts sozialistische Theoretiker Heimat und Nation in ihr Denken aufgenommen hatten, da tat sich die DDR-Führung mit dem Nationenbegriff eher schwer. Die Teilung Deutschlands als raison d'être verbot einen unbeschwerten Rückgriff ebenso wie die jüngste Geschichte der nationalsozialistischen Diktatur. Umso stärker rückte deshalb die "Heimat" in den Vordergrund: Was der Ideologie des Sozialismus an identitätsstiftendem Potenzial mangelte, sollten heimattümelnde Praktiken und Propaganda bieten. "Sozialistische Heimat" war die Vorlage, auf der sich die Bürger zunächst in den 1950er Jahren, intensiviert aber unter Honecker mit ihrem Staat identifizieren sollten und - das ist der Part, der dem Buch eigentlich Verve gibt - zugleich ihren eigenen Interessen folgen konnten. Mit Teilen der Natur- und Umweltschutzbewegung wie auch den Gruppen, die sich für die Rettung der historischen Stadtzentren engagierten, entwickelte sich ein Strang der Opposition genau aus dem Heimatsegment, welches der SED-Staat intensiv gefördert hatte.

Über solche essayistischen Bemerkungen hinauszukommen und diese Wechselbeziehung tatsächlich empirisch zu analysieren, bedingt einen komplexen Zugriff: Methodisch orientiert sich Palmowski dabei an James C. Scotts Konzept der "multiple transcripts": Mit dem "public transcript" ist die Ebene staatlicher Soll-Vorstellungen benannt, die einen für die Teilnehmer unausweichlichen Rahmen schafft. Im "hidden transcript" tauchen nun aber die Ambiguitäten, hintersinnigen Bedeutungszuschreibungen und verdeckten Mechanismen auf, mit denen sich Gemeinschaften innerhalb dieses Rahmens durchaus eigensinnig bewegen. Dieser Referenzrahmen ist hilfreich, wird aber empirisch durchaus überstiegen: Der abstrahierenden Gegenüberstellung zweier Lager im Denken Scotts stellt Palmowski insbesondere in seinen abschließenden lokalen Fallstudien eine komplexere Analyse gegenüber.

Aber der Reihe nach: Zunächst wird entwickelt, wie die SED das Konstrukt der "sozialistischen Heimat" nach und nach aufbaute. "Heimat" diente dazu, das Regime einzuordnen in die Kontinuität des Raumes und der Zeit. Folklorefestivals und Ausstellungen feierten die "Heimat", die ostdeutsche Variante des Unser-Dorf-soll-schöner-Werden zeichnete besonders gepflegte Häuser und Anwesen mit goldenen Hausnummern aus. "Heimat" wurde in die Lehrpläne der Schule integriert, die Luther- und Preußenrenaissance im öffentlichen Geschichtsbild der DDR ordnen sich dort ein.

Das "Heimat"-Konzept hatte dabei mindestens eine Doppelfunktion: Einerseits evozierte es Verwurzelung, andererseits sollte es dazu dienen, Tradition und Transformation zu harmonisieren. Der Anspruch, auch das Land zu industrialisieren, war nicht ohne weiteres mit den sentimentalen Haltungen in Einklang zu bringen, die der Rekurs auf die Heimat mit sich brachte. Versuche, beide Tendenzen in Einklang zu bringen wie beispielsweise mit einem Fest zur vollständigen Kollektivierung des Dorfes, scheiterten kläglich.

Zwei lokale Fallstudien dienen Palmowski dazu, in seinen Abschlusskapiteln die "hidden transcripts" zu rekonstruieren: In Holungen, östlich von Göttingen und damit nahe der deutsch-deutschen Grenze entstanden Spannungen rund um die katholische Identität der Kleinstadt. In den öffentlichen Ritualen der gelebten Religiosität und im Karneval trafen "public" und "hidden transcript" aufeinander. Im mecklenburgischen Dabel, welches Palmowski als Musterkommune der sozialistischen Heimatbewegung porträtiert, stellten Flüchtlinge und Vertriebene die existierende Gemeinschaftsvorstellung in Frage und provozierten Diskussionen über das eigene Selbstverständnis. Später traten dann andere Ereignisse der Selbstrepräsentation wie auch eine nahegelegene Militärbasis hinzu. Für beide Kommunalstudien greift er auf Interviews zurück, hat archivalisch jeden Stein umgedreht und dabei auch extensiv die vorhandene Überlieferung des Repressionsapparates genutzt. Im Ergebnis zeichnet Palmowski auf diese Weise ein überaus anschauliches Bild von Alltagsleben und Freizeit zwischen staatlichen Vorgaben sozialistischer Werte und den überkommenen eigenen Heimatvorstellungen. Wer sich für "seine" Heimat engagierte, nutzte dafür den staatlich vorgegebene Rahmen, ohne damit zwangsläufig den SED-Intentionen zu folgen. Es sind einzelne Biografien, die er verfolgt, in denen sich die ganze Ambiguität des Lebens in der Diktatur zeigt: auf der einen Seite ein Dorn im Auge der SED, auf der anderen Seite Stasi-Informant und persönlich immer auf der Suche danach, im Zentrum des Geschehens zu bleiben - so vielschichtig können einzelne Personen ihr Leben gestaltet haben. Höchst aufschlussreich sind auch seine Einblicke in die Aktivitäten und Wirkungen der Staatssicherheit vor Ort: Jeder, der offen gegen das "public transcript" verstieß, hatte Repressionen zu vergegenwärtigen. Bis auf wenige Vorkommnisse in den 1950er Jahren war solch ein Vorgehen erst 1989 selbst wieder zu verzeichnen. Schwieriger ist es aber, die Folgen der latenten Anwesenheit der Stasi abzuschätzen. Palmowskis Einschätzung nach war in der dörflichen Intimität und Enge die Stasi immer als Kraft von außen empfunden worden und hatte auf diese Weise den Zusammenhalt nach innen gestärkt. Diese Einschätzung des MfS konnte aber nur dadurch aufrechterhalten werden, dass die Dorfgemeinschaft gegenteilige Vorkommnisse, Erfahrungen der Repression und die Kollaboration einzelner ihrer Mitglieder, schlichtweg ignorierte - eine Haltung, die bis heute anhält und Grundlage für die Idee der gemeinsamen "Heimat" ist.

Mit diesen Skizzen und Analysen hinterfragt Palmowski auch die von Mary Fulbrook aufgebrachte "Normalisierungsthese": Was bedeutet das so vielfache Mittun von Bürgerinnen und Bürgern bei den zahlreichen Kampagnen der Nationalen Front, der Einheits- und der christ-, liberal- und nationaldemokratischen Blockparteien? Dieses nur als "Normalisierung" zu charakterisieren, vereinfache die komplexe Interaktion zwischen persönlich-individuellen Anliegen, kommunalen Beziehungsgeflechten und den Vorgaben des sozialistischen Politik- und Ideologiesystems (312). Palmowski kann stattdessen überzeugend zeigen, wie die "Heimat"-verbundenen Aktivitäten zugleich Bindung stifteten und Distanz schufen. In seinem Resümee "From Citizens to Revolutionaries" skizziert Palmowski, wie bereitwillig und selbstinitiativ die Ostdeutschen die friedliche Revolution (mit)trugen, das SED-Regime abschüttelten und die Transformation gestalteten: Der Direktor des Boizenburger Heimatmuseums avancierte zum Sprecher des lokalen Protestes, die Bürger von Holungen intensivierten und nutzten ihre Kontakte zu katholischen Partnergemeinden Westdeutschlands, um den Veränderungen einen Weg zu bahnen. Ebenso sehr wie die Heimatideologie der SED die vierzigjährige Stabilität der DDR mit zu erklären vermag, hat sie auch eine Sprache bereitgestellt und Ansprüche sich entwickeln lassen, die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre den Niedergang des Regimes erklären helfen.

Mit seinem Buch hilft Palmowski auf anregende und überzeugende Weise die "innere" Geschichte der DDR zu erklären, ihre Stabilität, innere Bindung wie auch ihren Zerfall. Applegate, Confino, Jenkins, Retallack - diese Reihe illustrer Namen derjenigen englisch schreibenden Forscherinnen und Forscher, die die "deutsche Heimat" aufgegriffen haben, wird man in Zukunft nahtlos um den Namen Palmowski ergänzen.

Rezension über:

Jan Palmowski: Inventing a Socialist Nation. Heimat and the Politics of Everyday Life in the GDR, 1945-90 (= New Studies in European History), Cambridge: Cambridge University Press 2009, XV + 342 S., ISBN 978-0-521-11177-5, GBP 60,00

Rezension von:
Thomas Großbölting
Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Großbölting: Rezension von: Jan Palmowski: Inventing a Socialist Nation. Heimat and the Politics of Everyday Life in the GDR, 1945-90, Cambridge: Cambridge University Press 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 4 [15.04.2011], URL: https://www.sehepunkte.de/2011/04/18145.html


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