Der Diskurs über Träume und ihre Bedeutung wurde Jahrhunderte lang von Religion und Aberglauben bestimmt, bevor sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein modernes Verständnis durchzusetzen beginnt, das den Traum als anthropologisches und psychologisches Phänomen in den Blick nimmt. Dieser Paradigmenwechsel, vor allem aber seine komplexe, bisher vernachlässigte Vorgeschichte, ist das Thema der Berliner Habilitationsschrift der nun in München lehrenden Historikerin Claire Gantet.
Für den Zeitraum zwischen 1500 und 1750 untersucht die Verfasserin die Diskurs- und Wissenschaftsgeschichte des Traums, und zwar mit dem Anspruch, dabei den gesamten Kulturraum des Heiligen Römischen Reichs einzubeziehen (3). Insbesondere im letzten Drittel der Untersuchung verengt sich der Fokus allerdings zunehmend auf den deutschen Sprachraum. Als Quellen herangezogen werden einerseits Traumberichte und -aufzeichnungen, andererseits theoretische und pragmatische Texte, die den Traum ausgehend von höchst unterschiedlichen Fragestellungen und Wissensbeständen thematisieren. In den sieben Kapiteln des Bandes entsteht so das Panorama einer frühneuzeitlichen Wissensordnung, das die Vielfalt hermeneutischer, ontologischer, und anthropologischer Interessen am Traum eindrucksvoll vor Augen führt.
Die Entwicklung der Traumdiskurse im 16. Jahrhundert situiert die Verfasserin im Spannungsfeld zwischen der neuplatonischen Aneignung antiker Seelen- und Traumtheorien und der Neubewertung des Traums als Medium übernatürlicher Mitteilungen im Sinne der biblischen Überlieferung. Die Theologisierung der antiken Anthropologie kulminiert in der Diskussion um den "Seelenschlaf", also um die Frage, ob die unsterbliche Seele die Zeit zwischen Tod und Auferstehung in einem schlafähnlichen Zustand überbrückt, in dem ihre Individualität gewahrt bleibt. Besondere Brisanz gewinnt die Auseinandersetzung mit dem Traum in der Reformationszeit. Während Lutheraner wie Melanchthon und Caspar Peucer den Traum als biblisch autorisierte Form der Prophetie würdigen, wird er durch politisierte Schwärmer und Radikale vom Schlage Thomas Müntzers diskreditiert, der als selbsternannter "neuer Daniel" die Autorität göttlicher Träume über die der Schrift stellt. Bekämpft werden muss die Traumdeutung aber nicht nur als Politikum, sondern auch als populäre Form von Aberglauben. Immer wieder neu aufgelegte Traumbücher wie dasjenige Artemidors werden selbst dann, wenn sie sich zunehmend den Anschein biblisch-theologischer Konformität geben, zu Kristallisationspunkten klerikaler Polemik gegen Mantik und Aberglauben.
Die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts steht für Gantet im Zeichen der Konfessionalisierung der Traumdiskurse. Während das protestantische Projekt scheitert, das Problem der Unterscheidbarkeit von göttlichen und teuflischen Träumen unter Rückgriff auf die Gehirnphysiologie zu lösen, was den Traum schließlich - etwa bei Peucer - in die Nähe von Täuschung und Wahn rückt, gerät der Traum auf katholischer Seite als problematisches Produkt der Imagination ins Visier der Dämonologen und Inquisitoren. Die Frage, ob die Einlassungen der Hexen und der Melancholiker (Faust!) mit dem Teufel imaginär oder real sind, wird zum Kreuzungspunkt theologischer, anthropologischer und juristischer Erörterungen.
Ein umfangreiches Kapitel widmet die Verfasserin den Mystikern und Schwärmern der Zeit zwischen 1550 und 1650. Sie kann zeigen, wie sich hier ein Konzept von Selbsterkenntnis entwickelt, dessen Nachwirkungen noch im Pietismus und in der Erfahrungsseelenkunde greifbar sein werden. Sowohl der Begriff des Selbst als auch der der Selbsterkenntnis verweisen etwa bei Helmont auf einen Erfahrungsraum der Innerlichkeit, auf den gottesebenbildlichen 'inneren Menschen'. Sein 'inneres Auge' wird zum Medium visionärer, nicht-sinnlicher Gotteserkenntnis. Für die Ausdifferenzierung dieses mystischen Paradigmas sind Wechselwirkungen mit anderen Wissensbeständen ausschlaggebend: In Texten von Schwärmern wie Caspar von Schwenckfeld, Valentin Weigel, Johann Valentin Andreae oder Johann Arndt untersucht Gantet etwa die Rezeption der paracelsischen Medizin und der Alchemie.
Etwas aus dem Rahmen fällt das fünfte Kapitel, das sich nicht mit der Diskursgeschichte des empirischen Phänomens Traum beschäftigt, sondern mit Erzählungen fiktiver Träume als Mittel politisch-moralischer Kritik. Mittels des Traummotivs verleiht die Publizistik des 17. Jahrhunderts, namentlich das neue Medium der Flugschrift, staatsbezogenen Satiren und Allegorien einen ambivalenten Wahrheitsstatus zwischen warnender Prophetie und unverbindlichem "Traum-Geschwaetz" (Andreas Clers, vgl. 327).
Die Funktion autobiographischer Traumaufzeichnungen im Rahmen des Prozesses der "Psychologisierung des Ich" (344) untersucht das umfangreichste sechste Kapitel des Buches. Es spannt den Bogen von der Renaissance über Barock und Pietismus bis in die Zeit der Aufklärung, von Dürers Traumgesicht (1525) über Girolamo Cardanos Vita, Sigmund von Birken, Johanna Eleonora Petersen bis hin zu Johann Gottlob Krügers Träume (1754). Trotz einer Fülle von erhellenden Einzelbeobachtungen an teilweise wenig erforschten Texten (insbesondere aus dem Pietismus) gelingt es der Verfasserin hier nur bedingt, eine übergreifende Entwicklung in schlüssiger Weise zu rekonstruieren. Zwar ist ihr Ansatz vielversprechend, das "Ego-Dokument" (344) Traumaufzeichnung als Instrument der Wissensproduktion zu begreifen, das sich jeweils spezifischer ästhetisch-rhetorischer Mittel bedient und damit einen paradoxen Status zwischen der Authentizität individueller Imagination und der Fiktionalität konventioneller Erzählmuster erlangt (vgl. 352f.). Die Einbeziehung der Traumfiktionen Krügers, die ein 'experimentalliterarisches' Element seiner wegweisenden Experimentalseelenlehre darstellen, sprengt jedoch den Rahmen von Autobiographik und Selbstbeobachtung. Um den Brückenschlag zur empirischen Traumforschung zu illustrieren, wären wohl die in Karl Philip Moritz' Magazin zur Erfahrungsseelenkunde aufgenommenen Traumberichte geeigneter gewesen, die Gantet nur streift.
Der Ausblick im letzte Kapitel des Buches zur Diskurskonstellation um 1750 verdeutlicht noch einmal das komplexe Nebeneinander zeitgleicher Entwicklungen: der anthropologischen Neuansätze der 'philosophischen Ärzte' in Halle, des Ringens um das mantische Potential des Traums und der aufklärerischen Angst vor der Unkontrollierbarkeit und Unvernünftigkeit der den Traum beherrschenden Einbildungskraft.
Gantets monumentale Studie ist zweifellos ein Meilenstein für die Erforschung der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte des Traums. Pionierarbeit sind sowohl die Kapitel zu Mystik und Schwärmertum als auch die Untersuchungen zum Pietismus, der etwa in Peter André Alts einschlägigem Band Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Geschichte der Neuzeit fast vollkommen übergangen wird. Die Studie verarbeitet eine beeindruckende Fülle an teilweise unbekanntem Material; die 130 Seiten umfassende Bibliographie dürfte sich als Steinbruch für künftige Forschungen erweisen. Im Vergleich dazu fällt die Skizzierung der bisherigen Forschung allerdings merkwürdig knapp aus (7-10). Auch die Ausführungen zur Methodik und zur spezifischen Fragestellung der Untersuchung (3-6) haben - überraschend in einer Habilitationsschrift - eher den Charakter von Andeutungen. Im Materialdschungel vermisst man dann auch bisweilen den roten Faden, man wünscht sich mehr Thesenfreudigkeit, und es kommt vor, dass das Thema Traum in ausführlichen Exkursen ganz aus dem Blick gerät. Dennoch: Wer verstehen will, welche Rolle der Traum beim neuzeitlichen Umbau des Wissens vom Menschen gespielt hat, kommt an Gantets Buch nicht vorbei.
Claire Gantet: Der Traum in der Frühen Neuzeit. Ansätze zu einer kulturellen Wissenschaftsgeschichte (= Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext; Bd. 143), Berlin: De Gruyter 2010, X + 621 S., ISBN 978-3-11-023111-3, EUR 149,95
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.