Max Weber ist längst zu einem Mythos in der Wissenschaftsgeschichte geworden, zahlreiche Historiker und Soziologen haben sich an seinem umfangreichen Werk "abgearbeitet". Im vorliegenden Buch untersucht Lawrence A. Scaff, Professor für Politikwissenschaften und Soziologie an der Wayne State University (Michigan) das Wirken der weberianischen Soziologie in den USA. Den Auftakt bildet dabei Webers Amerikareise im Jahr 1904. Sie fiel in die Ära des Progressivismus und der Amtszeit Präsident Theodore Roosevelts. In Webers Schrift "Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus" verkörpern die Vereinigten Staaten den Prototyp des modernen Kapitalismus. Davon konnte sich der Autor auf seiner Reise überzeugen. Den Eindrücken Webers und ihre Verarbeitung in seinem Werk wie auch in der Weberschen Rezeption durch zeitgenössische amerikanische Gelehrte spürt Scaff in souveräner und innovativer Weise nach. Besonders hervorzuheben ist die tiefgehende Quellenkritik auf knapp 300 Seiten - also eine nicht leichte Lesekost. Doch um es vorwegzunehmen, für jeden Max Weber-Forscher, Sozialhistoriker und Amerikaspezialisten ist dieses Buch unbedingt zu empfehlen.
Zunächst verortet Scaff Webers Amerikareise in den Kontext der wissenschaftshistorischen Transfers zwischen dem Deutschen Reich und den Vereinigten Staaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es ist die Hochzeit der Soziologie diesseits und jenseits des Atlantiks. Neben Weber reisten Werner Sombart, Ferdinand Tönnies und Johannes E. Conrad 1904 zum "International Congress of Arts and Science", der zeitgleich zur Weltausstellung in St. Louis stattfand. Anschaulich beschreibt der Autor die deutsch-amerikanischen Netzwerke der scientific community. Neben den akademischen Debatten bezog Max Weber das Anschauungsmaterial für "Die protestantische Ethik und den 'Geist' des Kapitalismus" aus dem realen Leben vor Ort, so z.B. in der deutschen Immigrantengemeinde von North Tonawanda, wo Weber Hans Haupt, dem Pastor der Reformierten Kirche, begegnete. Hier aber auch andernorts studierte Weber die Beziehungen innerhalb der protestantischen Kongregationen, den Zusammenhang von individueller religiöser Überzeugung und ökonomischen Handelns. Die protestantischen Gemeinden, die Weber während seiner Amerikareise besuchte, stellten quasi ein empirisches Laboratorium dar. Dies war auch Webers Anliegen, indem er - im Sinn der modernen kognitiven Psychologie - von der Wissenschaft als einer "Wirklichkeitswissenschaft" sprach. (58.) Ein weiteres interessantes Phänomen, das Weber beobachtete, war die assimilatorische Kraft der amerikanischen, sprich angelsächsischen Erziehung. Der typische amerikanische Businessman präsentierte sich als "gentleman" mit den Eigenschaften Selbstbewusstsein, zivile Verantwortung und Unabhängigkeit, was von vielen Immigranten mit Unternehmergeist angenommen wurde. Dies war zugleich erklärtes Programm der U.S. Commission of Education. Für die Europäer schlussfolgerte Weber, dass es schwierig sei, mit den großen produktiven Kräften der Vereinigten Staaten mitzuhalten. (52.)
Ein anderes Thema, auf das Weber seine Aufmerksamkeit richtete, war die Entwicklung der amerikanischen Agrargesellschaft. In Oklahoma stellte der Soziologe fest, dass die zunehmende Industrialisierung und Technologisierung die frontier im Westen und Süden der Vereinigten Staaten zu einer "romantischen Vergangenheit" mache. (90.) Als Opfer dieser kapitalistischen Modernisierungsprozesse machte Weber die Indianer und die Afroamerikaner aus (95-99.) Was letztere betraf, wurde er insbesondere von W.E.B. Du Bois inspiriert. Weber erkannte, dass die den Afroamerikanern vorenthaltene politische, wirtschaftliche und soziale Teilhabe zum Kardinalproblem der modernen amerikanischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts werde (100ff.) Aber auch Du Bois kannte Max Webers frühe Schriften aus seiner Studienzeit an den Universitäten Berlin und Heidelberg. In seiner Auseinandersetzung mit dem Mediziner und Rassentheoretiker Alfred Ploetz betonte Weber zu Recht, dass es sich bei dem Begriff "Rasse" um ein soziokulturelles, auf Vorurteilen und Stereotypen beruhendes Konstrukt handle (113-115). Verblüffend ist jedoch, dass Weber diese Feststellung nicht in Relation zu der in der amerikanischen Gesellschaft tief verwurzelten protestantischen, d.h. puritanischen Ethik setzte, die sich ja gerade aus dem Auserwähltseins und dem Überlegenheitsgefühl des Sektierertums speiste und einen Anachronismus der amerikanischen Moderne darstellte.
In einem zweiten Teil widmet sich Scaff der Weber-Rezeption in den USA. Diese setzte in den 1920er Jahren mit der Übersetzung der Werke ins Englische ein. Der Autor unterscheidet dabei drei Ebenen, die er im Folgenden untersucht: 1) die Entstehung professioneller akademischer Netzwerke, die die Weberschen Gedanken zirkulierten, 2) die Übersetzung seiner Schriften, 3) die "Institutionalisierung" der Weberschen Gedanken in der universitären Forschung und Lehre. Was Punkt 1 anbelangt, so spielten die Vertreter der "Chicago School", Frank Knight, Louis Wirth und später Edward Shils, sowie Talcott Parsons von der Harvard University eine entscheidende Rolle. Aber es trat noch eine weitere Gruppe von Multiplikatoren hinzu: in den 1930er Jahren eine Reihe aus dem deutschsprachigen Raum emigrierter Gelehrte wie Emil Lederer, Albert Salomon und Hannah Arendt, die sich um die "New School for Social Research" in New York gruppierten. Scaff konstatiert, dass der Webersche Gedanke erst relativ spät, d.h. in den 1950er Jahren, in den Kanon universitärer Forschung und Lehre aufgenommen wurde. Mehrere entscheidende Gründe nennt der Autor: 1) der mangelhafte bzw. bruchstückhafte Austausch zwischen amerikanischen Soziologen und ihren emigrierten deutschen Kollegen, 2) Rivalitäten um die Deutungsmacht des Weberschen Gedankens, 3) schließlich interkulturelle Missverständnisse bedingt durch die Übersetzung der Weberschen Texte, was Scaff zu Recht "sociology of translation" nennt. Auf diesen höchst interessanten Punkt geht der Autor am detailliertesten ein. "Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus" wurde in den späten 1920er Jahren von Talcott Parsons, der wenige Jahre zuvor an der Universität Heidelberg studiert hatte, übersetzt. Schwierigkeiten bereitete die adäquate Übersetzung der Weberschen Termini, so z.B. Zweckrationalität zu "instrumental, purposive, or means-to-ends-rationality". Vergesellschaftung übersetzte Parsons mal als "associative relationship", mal als "organized activity". (235-237). Dass dadurch der Boden für mannigfaltige Interpretationen und Kontroversen gegeben war, liegt auf der Hand.
Insgesamt legt Scaff eine beeindruckende, zu weiteren Weber-Forschungen anregende Studie vor. Ungeachtet der Komplexität des Themas "Max Weber in America" ist das Buch lebendig geschrieben. Es verdeutlicht nicht nur, was den Mythos Max Weber im Ausland ausmacht, sondern auch welchen Mythos Amerika in der Gedankenwelt Max Webers und der deutschen Soziologie darstellte. Besonders erhellend ist Scaffs Blick auf die durch die Übersetzung bedingten unterschiedlichen Diskurskonventionen der amerikanischen und deutschen Soziologie. Hier kommen kulturelle Filter zwischen Ausgangs- und Zieltext zum Tragen. Beschäftigt man sich mit der Weber-Rezeption im Ausland [1], so sind diese multikulturellen Filter zu berücksichtigen - ein spannendes Unternehmen.
Anmerkung:
[1] Vesa Oittinen: Max Weber in Russia. Helsinki 2010; Dittmar Dahlmann: Max Weber und Russland. In: Dittmar Dahlmann (Hg.): Deutschland und Russland. Aspekte kultureller und wissenschaftlicher Beziehungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Wiesbaden 2004, 253-275; Wolfgang Schwentker: Max Weber in Japan. eine Untersuchung zur Wirkungsgeschichte 1905-1995. Tübingen 1998.
Lawrence A. Scaff: Max Weber in America, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2011, XV + 311 S., ISBN 978-0-691-14779-6, GBP 24,95
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