Es handelt sich um ein gewichtiges Buch: fast 2 kg schwer und fast 1.200 Seiten dick kann man es nur an einem Tisch lesen und ist zunächst beeindruckt vom Fleiß der beiden Herausgeber. Der Band behandelt zudem ein Desiderat der Forschung zur deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts: den einzelstaatlichen Parlamentarismus, den seit mehr als 30 Jahren das Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus [1] systematisch aufarbeiten soll, in dem jedoch der hessische Parlamentarismus noch nicht behandelt wurde. Der Untersuchungszeitraum, der in der Einleitung nur feuilletonistisch begründet wird ("reich an grundstürzenden Vorgängen wie sonst kaum ein Zeitraum dieser Kürze. Ganze Ereigniskatarakte ergießen sich über die [...] erstarrten Verhältnisse und bringen sie wieder in Bewegung" (7)), beginnt mit der Gründung der Fortschrittspartei, also mit einer Wendemarke der deutschen Parteiengeschichte. [2] In dieser Umbruchzeit ist das Großherzogtum Hessen ein besonders interessanter deutscher Staat. Im "Bruderkrieg" von 1866 stand es wie die meisten deutschen Staaten auf der Seite Österreichs und hielt am 1815 geschaffenen Deutschen Bund fest. Da Preußen jedoch gewann und das Territorium des Großherzogtums auf beiden Seiten des Maines lag, der künftig die innerdeutsche Grenze bildete, gehörte es zu den von den Kriegsfolgen am härtesten betroffenen Ländern. Seit 1866 war das Land geteilt - der Norden gehörte zum Norddeutschen Bund, der Süden (Rheinhessen und Starkenburg) bildete einen unabhängigen Staat. Im Rahmen der Reichsgründung wurden die Teile wiedervereinigt und bildeten fortan einen Bundesstaat.
Diese Besonderheiten machen das Großherzogtum Hessen in den Jahren 1862 bis 1875 zu einem über die Regionalgeschichte hinaus interessanten Thema, das die neuere Forschung aber kaum behandelt hat. Entsprechend berühren einige Passagen der 130 Seiten langen Einleitung Fragen, die genauer untersucht werden sollten, z.B. die Entwicklung der "deutschen Fortschrittspartei in Hessen", die anders als ihre preußische Schwester eine Mitgliederpartei wurde und deren Abgeordnete sich im Reichstag der nationalliberalen Fraktion anschlossen, da sie die Vorbehalte der preußischen Genossen gegen liberale und demokratische Defizite der Bismarckschen Reichsgründung nicht teilten. Bei genauer Lektüre bietet die Einleitung viel interessantes Material, nicht zuletzt weil in den Text immer wieder Faksimiles und Abschriften wichtiger Dokumente eingefügt sind (teilweise in kaum lesbarer Verkleinerung bzw. in Mikro-Schrift vor grauem Raster). Allerdings hätte eine klarere Strukturierung den Gebrauchswert der Einleitung deutlich erhöht. So findet man Ausführungen zum Wahlrecht nicht im Abschnitt "Wahlrecht [...]", sondern unter "Die Regierung Dalwigk 1850-1862". Die Autoren haben zudem die neuere Forschung nur begrenzt wahrgenommen und stützen sich (neben Spezialliteratur zu Hessen) vornehmlich auf Nipperdey, Gall und das DDR-Lexikon zur Parteiengeschichte. Wehler, Siemann, Jürgen Müller, Harm-Hinrich Brandt, Langewiesche, Lenger, Wolfgang Mommsen und viele andere sucht man vergeblich. Dafür enthält das Literaturverzeichnis allerlei Abseitiges und viele Bücher zu Italien. Die mangelnde Rezeption der neuesten Forschung zeigt sich u.a. in der verwirrenden Terminologie der Einleitung mit "Liberal-Konservativen" und "Konservativ-Liberalen", mit "Klerikal-Konservativen", die nur in den Tabellen in einer nirgends aufgelösten Abkürzung (KlKons) vorkommen und offenbar mit dem zuvor charakterisierten politischen Katholizismus identisch sind. Diese Unklarheit zeigt wiederum, wie wichtig eine präzise Erforschung der Parteiengeschichte auf einzelstaatlicher Ebene ist.
Leider jedoch haben die beiden Herausgeber, der pensionierte Darmstädter Ordinarius Christof Dipper, der als einer der wenigen Spezialisten für die neuere Geschichte Italiens renommiert ist [3], sowie sein Altersgenosse Manfred H. W. Köhler, der mehrere biografische Studien zu hessischen Achtundvierzigern vorgelegt hat [4], nicht - wie es der Titel vermuten lässt - systematisch in einer Monografie die in der Einleitung aufgeworfenen Fragen zur Parteiengeschichte, zum Wahlrecht und zur parlamentarischen Praxis im Jahrzehnt der Reichsgründung bearbeitet, sondern eine Edition von Landtagsreden vorgelegt. Sicher kann man sagen, dass bei den großen Lücken in der Erforschung der Geschichte des 19. Jahrhunderts jede Edition sinnvoll sei. Es ist aber unbedingt erforderlich, dass editorische Standards respektiert werden, zumal wenn ein Projekt mit Steuergeldern finanziert wurde. [5] Fünf Punkte sollen zeigen, dass der vorliegende Band solchen Standards nicht genügt:
1. Der Titel muss angeben, was ein wissenschaftliches Werk enthält, so dass bereits bei einer Katalogrecherche deutlich wird, zu welchen Fragen es in welcher Form Auskunft gibt.
2. Die Einleitung zu einer Edition muss in erster Linie eine Gebrauchsanweisung sein und über Editionsprinzipien, Untersuchungszeitraum, Auswahlkriterien etc. informieren. Wenn die Bearbeiter darüber hinaus das edierte Material analysieren bzw. ihre Forschungsergebnisse (wie hier zur hessischen Parteiengeschichte) präsentieren wollen, müsste eine knappe Gebrauchsanweisung hiervon getrennt werden. Im vorliegenden Band muss man die zur Benutzung notwendigen Informationen mühsam in den 130 Seiten Einleitung suchen.
3. Benutzer einer wissenschaftlichen Edition müssen die sie interessierenden Informationen schnell finden können. Das ist ohne Sachregister unmöglich. Der vorliegende Band ist nur durch ein Personen- und Ortsregister erschlossen, das zudem unvollständig ist. Stichproben zu den Namen der in den Fußnoten zitierten Autoren zeigen, dass z.B. bei weitem nicht alle Stellen, an denen Adalbert Hess zitiert wird, im Register stehen. Viele Autoren (z.B. DDR-Historiker wie Dieter Fricke oder Rolf Weber) sucht man im Register vergeblich, obwohl die Bearbeiter sie häufig als Beleg anführen.
4. Die edierten Texte sollten vollständig abgedruckt werden. Zumindest sollten Regesten die Auslassungen inhaltlich charakterisieren. Dipper und Köhler haben fast alle edierten Reden gekürzt, ohne anzugeben, welche Passagen nach welchen Kriterien weggelassen wurden. Das ist "old school". Auch innerhalb der in der Edition dokumentierten Landtagsdebatten zu Themen wie Religion und Einfluss der Kirchen, Nationalstaatsbildung, Staatsorganisation, Wirtschafts- und Finanzpolitik, wird nicht angegeben, welche weiteren Redner sprachen, welche wesentlichen Argumente sie ins Feld führten und warum ihre Reden nicht dokumentiert werden.
5. Nur schwer zugängliches Material sollte ediert werden. Seit der Jahrtausendwende laufen umfassende digitale Editionen der deutschen Parlamentsprotokolle. Alle im vorliegenden Band abgedruckten Reden lassen sich im Internet unter http://starweb.hessen.de/cache/hessen/parlamente_historisch/grossherzogtum_hessen/ vollständig im Faksimile nachlesen. Was will der Historiker mehr? Diese wichtige Information verschweigen Dipper und Köhler ihren Lesern. Vielleicht wäre ein knappes, gut gemachtes Lesebuch neben der digitalen Edition attraktiv. Aber warum sollten eine Bibliothek oder ein Wissenschaftler 72 für diesen unhandlichen, schlecht erschlossenen Band ausgeben?
Anmerkungen:
[1] Die bisher erschienenen zehn Bände (1977-2009) unter http://www.kgparl.de/publi-handbuch.html (8.12.2011).
[2] Die Fortschrittspartei entstand im Juni 1861 in Preußen. Vgl. Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849-1871, Paderborn 2011, insb. 144-150.
[3] Vgl. Werner Daum / Christian Jansen / Ulrich Wyrwa: Deutsche Geschichtsschreibung über Italien im "langen 19. Jahrhundert" (1796-1915), in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), insb. 474ff.
[4] Vgl. http://d-nb.info/gnd/128946911.
[5] Der Band gibt keinerlei Auskunft über seine Entstehungsgeschichte und Finanzierung.
Manfred Köhler / Christof Dipper (Hgg.): Einheit vor Freiheit? Die hessischen Landtage in der Zeit der Reichseinigung 1862-1875 (= Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission; N. F.; Bd. 32), Darmstadt: Hessische Historische Kommission Darmstadt 2010, 1190 S., ISBN 978-3-88443-055-2, EUR 72,00
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