Was Oswald Bauer titelgebend in seiner historischen Dissertation (Augsburg 2009) als "Zeitungen vor der Zeitung" pointiert umschreibt, zielt auf einen bedeutsamen, aber dennoch gerne empirisch umschifften Forschungskomplex innerhalb der Publizistik-, Kommunikations- und Medienhistoriografie zur Frühen Neuzeit: die Geburtswehen der gedruckten Zeitungsperiodika. Dass die gedruckte, regelmäßig erscheinende Zeitung aus der geschriebenen entstanden ist, gehört mittlerweile ebenso zum interdisziplinären Handbuchwissen wie die Erkenntnis, dass die zeitgenössische Verstetigung des Informationsflusses durch den Ausbau des Postsystems mit ermöglicht worden ist. Insbesondere die Forschungen von Wolfgang Behringer zur Distributionslogik der Post sowie die Studien von Johannes Weber und Martin Welke zum Straßburger Drucker Johann Carolus, der im Jahr 1605 seine zuvor handschriftlich herausgebrachte "Relation" nun fortwährend in gedruckter Form "communiciret" hatte, weiteten das historische Verständnis.
Dennoch ist diese Schwellenphase von handschriftlicher zu gedruckter, regelmäßiger Publizität um das Jahr 1600 noch weitgehend unentschlüsselt. Erst 2011 hat ein Tagungsband die Forschungsstände zur "Entstehung des Zeitungswesens" nochmals auf das fachwissenschaftliche Podest gehoben. [1] Hierbei fand unisono Betonung, dass besonders Empirie zur Leistungsfähigkeit der Nachrichtendistribution und zu den Initiatoren, Kommunikatoren, Adressaten und Rezipienten von (handschriftlichen und gedruckten) Zeitungen fehlt. Wenn solche Desiderate skizziert werden, finden die "Fuggerzeitungen" stets Erwähnung.
Oswald Bauer hat sich dieses prominenten Desiderates der historischen Presseforschung angenommen. Seine Dissertation ist die erste Monografie zu den sogenannten Fuggerzeitungen, die auf einem umfangreichen empirischem Fundament steht. Unter dem Terminus "Fuggerzeitung" wird in der Regel auf die Nachrichtensammlung der beiden Augsburger Kaufmänner und Brüder Philipp Eduard (1546-1618) und Octavian Secundus Fugger (1549-1600) rekurriert, die seit den 1580er Jahren gemeinsam als "Georg Fuggerische Erben" firmierten und sich von der Kaufmannsdynastie der Fugger geschäftlich separiert hatten. In nuce handelt es sich bei den "Fuggerzeitungen" um die, in der Österreichischen Nationalbibliothek lagernde, gesammelte briefliche Korrespondenz der "Georg Fuggerischen Erben" inklusive der darin integrierten geschriebenen Nachrichten an die beiden Kaufmannsbrüder. Diese im Umfeld von wohlhabenden europäischen Kaufleuten, Diplomaten und Fürsten feststellbaren (handschriftlich verfassten) Nachrichtenbeilagen fasst der Autor unter dem Terminus geschriebene Zeitung. Mit Blick auf die oben angedeutete Marginalisierung dieser "eigentlichen Vorläufer der gedruckten Zeitungen" (33) nennt Bauer die geschriebene Zeitung "ein verkanntes Medium" (31).
Der Autor versteht seine Studie als Beitrag zu einer historischen Medienforschung, die Rückschlüsse auf das "frühmoderne Nachrichtensystem", so der Untertitel, ermöglichen soll. Die Arbeit ist in vier "Ebenen" gegliedert, in der zunächst die Sammler der Zeitungen in den Blick genommen und danach die "kommunikativen und infrastrukturellen Bedingungen des Nachrichtenwesens" (17) thematisiert werden. Hiernach folgt eine "Ebene der Inhalte" (17), die das konkrete Quellenkorpus (aus der Österreichischen Nationalbibliothek) - 16200 Nachrichten, verteilt auf über 19500 Blättern, gebunden in 27 Bänden - exemplarisch analysiert. Abschließend folgt eine "Ebene des Nachrichtenwesens" (17), die Vergleiche zu ähnlichen zeitgenössischen Nachrichtensammlungen anstellt.
Umsichtig positioniert der Autor seine Perspektiven innerhalb der bisherigen Forschungen zur voranschreitenden Professionalisierung des Berufs des Nachrichtenschreibers in Mitteleuropa. Auch Bauer geht davon aus, dass die Kompilierung von Nachrichten an mehrere Adressaten durch sogenannte "zeitunger" bzw. "novellanten" seit der Mitte des 16. Jahrhunderts eine neue Qualität erreichte. Wer es sich leisten konnte, abonnierte diese Nachrichtendienste, die in urbanen Knotenpunkten wie Rom, Köln, Antwerpen, Lyon oder Wien verfasst wurden. Die Berichterstattung war jeweils von der Informationslage in den "Nachrichtenzentren" abhängig, was Bauer als "mediale Aufmerksamkeit" aus ortsgebundenen "Nachrichteneinzugsgebieten" (68) beschreibt. Um möglichst alle verfügbaren Informationen zu erlangen, setzten die Georg Fuggerischen Erben auf eine Kombination aus abonnierten Zeitungsdiensten professioneller Provenienz, ergänzt um Nachrichten von eigenen Angestellten, Agenten, Bekannten und Freunden. In der Regel handelte es sich bei allen Korrespondierenden um "gut ausgebildete Leute in Spitzenpositionen [...], die über gute Kontakte verfügten, oder aber Stellungen innehatten, in denen sie Zugang zu geheimen Informationen besaßen" (109). Mit der Exklusivität und Qualität der geschriebenen Zeitung korrelierte der Preis: Abonnements waren kostspielig. Dementsprechend kommt als Rezipienten nur "eine gebildete europäische Elite" (110) in Frage, reiche Kaufleute, Bankiers, Fürsten und einzelne Gelehrte. Den erkauften "Informationsvorsprung" (140) deutet der Autor als wirtschaftlich nützlich und zugleich als soziales Kapital, das den Träger der Neuigkeiten auszeichnete.
Der "Rhythmus des Post- bzw. Botenwesens" (171) strukturierte den Informationsfluss, der zwar unter anderem durch militärische Konflikte verzögert werden konnte, aber nie ganz stoppte. Detailreich kann Bauer aufzeigen, dass Umwege, personalisierte Botengänge oder parallele Sendungen über mehrere Alternativrouten die geschriebenen Zeitungen in Augsburg bei den Georg Fuggerischen Erben ankommen ließen. Da die Inhaltsanalyse zu den ausgewählten Kommunikationssituationen des späten 16. Jahrhunderts (unter anderem zum Kölner Krieg, 1582-1590) einen hohen Prozentsatz an Berichten über militärische und politische Aspekte hervorbringt, meint der Autor, die bisherige These von der wirtschaftlichen Fokussierung der Fuggerzeitungen relativieren zu können. Gleichzeitig schwächt Bauer seine These durch die Betonung, dass gerade solche Informationen für Kaufleute wirtschaftliche Relevanz trugen.
Trotz stupender Quellenkenntnis und beeindruckender Detailfülle hat die Studie ein gewichtiges Manko: Auf den einschlägigen Forschungsstand zu publizistik- und kommunikationshistorischen Phänomenen der Frühen Neuzeit wird nicht umfassend rekurriert, selbst wenn ähnliche Ergebnisse erzielt werden. Um nur einige Beispiele zu nennen: Die geschriebene Zeitung und die kompilatorische Praxis des Verfassens wird ohne die Befunde der jüngeren Publizistikhistoriografie beleuchtet und zudem die einschlägigen Aufsätze von Holger Böning und Jürgen Wilke nicht erwähnt [2]; die erste größere Studie zu den Fuggerzeitungen von Johannes Kleinpaul bleibt unerwähnt [3]; das Interpretationsmodell des ökonomisch angetriebenen, Informationen verarbeitenden "Mediensystems" der Frühen Neuzeit von Johannes Arndt wird nicht berücksichtigt (obwohl Bauer an mehreren Stellen den Terminus "Mediensystem" gebraucht) [4]; die Analyse der Berichterstattung zum Kölner Krieg nutzt nicht die Ergebnisse von Eva-Maria Schnurr zur zeitgenössischen Publizistik und Öffentlichkeit des Konflikts. [5] Zudem ist es zwar arbeitsökonomisch verständlich, aber methodisch fraglich, warum die Flugpublizistik des zeitlichen Untersuchungsfensters (1568-1605) nicht als Gegenquelle für die Inhaltsqualität der Fuggerzeitungen herangezogen wurde. In summa führen diese Limitierungen auch zu einem lediglich die eigenen Befunde rekapitulierenden Fazit.
Trotzdem ist die quellengesättigte Studie bereits jetzt ein Referenzwerk für die Fuggerzeitungen. Dass sich die beachtliche Arbeitsleistung des Autors ihrer Strahlkraft teilweise selbst beraubt, liegt an der ausgebliebenen Integrierung der eigenen Befunde vor allem in den Forschungsstand zur Effektivität und der Logik des frühneuzeitlichen "Nachrichtensystems".
Anmerkungen:
[1] Volker Bauer / Holger Böning (Hgg.): Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert. Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit, Bremen 2011. Rezension von Andreas Würgler in sehepunkte 11 (2011), Nr. 9: http://sehepunkte.de/2011/09/20014.html (14.02.2012).
[2] Holger Böning: "Gewiss ist es/ dass alle gedruckten Zeitungen erst geschrieben seyn müssen". Handgeschriebene und gedruckte Zeitung im Spannungsfeld von Abhängigkeit, Koexistenz und Konkurrenz, in: Gerhild Scholz Williams / William Layher (eds.): Consuming News: Newspapers and Print Culture in Early Modern Europe (1500-1800), Amsterdam 2008, 203-242; ders.: Johannes Kleinpauls Beitrag zur Erforschung der Frühgeschichte der Presse, in: Stefanie Averbeck / Arnulf Kutsch (Hgg.): Zeitung, Werbung, Öffentlichkeit. Biographisch-systematische Studien zur Frühgeschichte der Kommunikationsforschung, Köln 2005, 88-109; Jürgen Wilke: Korrespondenten und geschriebene Zeitungen, in: Johannes Arndt / Esther-Beate Körber (Hgg.): Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit (1600-1750), Göttingen 2010, 59-72.
[3] Johannes Kleinpaul: Die Fugger-Zeitungen 1568-1605, Leipzig 1921.
[4] Johannes Arndt: Gab es im frühmodernen Heiligen Römischen Reich ein Mediensystem der politischen Publizistik? Einige systemtheoretische Überlegungen, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 6 (2004), 74-102; Johannes Arndt / Esther-Beate Körber (Hgg.): Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit (1600-1750), Göttingen 2010. Rezension von Andreas Würgler in sehepunkte 11 (2011), Nr. 2: http://sehepunkte.de/2011/02/17699.html (14.02.2012).
[5] Eva-Maria Schnurr: Religionskonflikt und Öffentlichkeit. Eine Mediengeschichte des Kölner Kriegs (1582 bis 1590), Köln 2009. Rezension von Axel Gotthard in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 9: http://sehepunkte.de/2010/09/18292.html (14.02.2012).
Oswald Bauer: Zeitungen vor der Zeitung. Die Fuggerzeitungen (1568-1605) und das frühmoderne Nachrichtensystem (= Colloquia Augustana; Bd. 28), Berlin: Akademie Verlag 2011, 436 S., ISBN 978-3-05-005158-1, EUR 89,90
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