Auf eigentümliche Weise stellen auch gut 22 Jahre nach dem Untergang der DDR die Außenpolitik des SED-Staates wie auch die Geschichte der Staatspartei selbst erhebliche Forschungsdesiderata dar. Die Ursache für das erste Monitum ist im Aktenzugang zu suchen: Für die Akten des MfAA gilt im Unterschied zu den anderen Staats- und Regierungsakten der DDR die übliche 30-Jahres-Sperrfrist. Warum die SED bislang kaum in den Fokus wissenschaftlicher Beschäftigung geraten ist, könnte indes mit der Verengung des öffentlichen Interesses auf die Repressionsinstrumente der Staatspartei in den beiden Jahrzehnten nach 1989/90 erklärt werden.
Dieser Tagungsband greift beide Forschungsdesiderata auf, befasst er sich doch mit den Westbeziehungen der SED (jenseits der Bundesrepublik). Die Herausgeber sprechen einleitend von "'transnationalen' Beziehungen" (8), konnten die Machthaber in der DDR doch ihr "Monopol auf grenzüberschreitende Beziehungen" letztlich nicht aufrechterhalten. Auf beiden Seiten in diesem "asymmetrischen Verhältnis" zwischen einer Staatspartei und im Westen häufig marginalisierten, allenfalls vorübergehend an Regierungen beteiligten kommunistischen Parteien waren stets auch nichtstaatliche Akteure und Privatpersonen beteiligt.
In den hier untersuchten Zeitraum - vornehmlich die zweite Hälfte der DDR-Geschichte - fallen historische Zäsuren, die das Verhältnis der SED zu den west- und südeuropäischen Bruderparteien bestimmt und belastet haben: die blutige Niederschlagung des "Prager Frühlings" durch Truppen des Warschauer Vertrages, der sowjetische Einmarsch in Afghanistan, die Verhängung des Kriegsrechtes in Polen, der NATO-Doppelbeschluss, die Aktivitäten der europäischen Friedensbewegung und der Amtsantritt von Michail Gorbatschow im Kreml. Dabei hatten bereits im Anschluss an den XX. Parteitag der KPdSU 1956 Tendenzen begonnen, die unter dem Signum "Eurokommunismus" insbesondere in den kommunistischen Parteien Frankreichs, Italiens und Spaniens zur Abwendung vom sowjetischen Modell und somit von der SED führen sollten.
In neun Einzelbeiträgen widmen sich die Autoren kommunistischen Massenparteien mit großer Relevanz für das innenpolitische Geschehen und mit zeitweiliger Regierungsbeteiligung (Parti Communiste Français/PCF, Partito Comunista Italiano/PCI), mittelgroßen Parteien (Partido Comunista de España/PCE, Kommounistikó Kómma Elládas/KKE) und der parlamentarisch unbedeutenden Communist Party of Great Britain (CPGB).
In Frankreich, so Ulrich Pfeil und Alexandre Bibert, beruhten die zumeist guten Beziehungen zwischen SED und PCF sowie den Gewerkschaftsverbänden FDGB und CGT auf dem ungebrochenen Fortbestehen ideologischer Gemeinsamkeiten. Die strategische Attraktivität der PCI für die SED, so Francesco Di Palma und Fiammetta Balestracci, steigerte sich mit dem Einzug der italienischen Kommunisten ins Europaparlament - ungeachtet der Verhärtung der Beziehungen nach dem Ende des Prager Frühlings.
Die spanischen Kommunisten mussten bis 1977 in der Illegalität agieren; Aurélie Denoyer und José M. Faraldo bezeichnen die PCE daher als "Partei ohne Heimat" (201). Schon 1978 strich man den Leninismus aus dem Parteiprogramm, und mit der Hinwendung zum Eurokommunismus, so Andreas Baumer, mussten auf beiden Seiten "sentimentale Erinnerungen an 'Spaniens Himmel'", den Mythos des Bürgerkriegs, hinter tagespolitischen Interessen zurücktreten (225). Die seit dem griechischen Bürgerkrieg verbotene KKE dagegen löste sich erst mit der Auflösung der DDR aus der Abhängigkeit von der SED. Von allen Bruderparteien war die KKE wirtschaftlich am engsten mit der SED verflochten; über Athen wickelte das SED-Regime umfangreiche Waffengeschäfte ab, so Andreas Stergiou.
Der formale Ablösungsprozess der CPGB von den Ostblockparteien vollzog sich nur sehr langsam, so Stefan Berger und Norman LaPorte; der britische Weg zum Sozialismus orientierte sich indes schon sehr früh am "undogmatischen westlichen Marxismus" (146). Die Bedeutung der Westemigranten für das spätere ostdeutsch-britische Geflecht skizziert David Morgan; dabei konstatiert er, "dass die DDR, ebenso wie die anderen 'Volksdemokratien', keine dauerhafte Anziehungskraft auf Kommunisten in England ausstrahlte", mehr noch, sie "spaltete in Großbritannien den Kommunismus" (104f.).
Hermann Wentker ordnet in seinem höchst instruktiven Beitrag die Parteibeziehungen der SED in die Außenpolitik der DDR ein und möchte anders als die Herausgeber "nur schwerlich" (43) von transnationalen Beziehungen sprechen. Im Anschluss an Andreas Rödder legt Wentker Wert darauf, transnationale Beziehungen mehr als "Erweiterung der traditionellen Geschichtsschreibung" denn als "grundlegende Neuorientierung" zu sehen (S. 34); man dürfe die Nationalstaaten als politische Akteure nicht unterschätzen. Im Kontext der SED-Auslandsbeziehungen hätten sich transnationale Beziehungen mit begrenzter Eigendynamik eher "gegen den Willen des Staats- und Parteiapparats ergeben" (39), beispielsweise bei den Aktivitäten des französischen Kulturinstituts in Ost-Berlin oder angesichts des relativ eigenständigen Kurses der Britain-GDR Society in den 1970er Jahren. Nikolas R. Dörr identifiziert "Handlungsfelder, Akteure und Probleme" und unterstreicht, dass es für die SED realpolitisch nie eine andere Option gab, als auch die Kontakte zu den eurokommunistischen Parteien aufrechtzuerhalten und sogar zu intensivieren.
Der frische, instruktive Band eröffnet zahlreiche neue Forschungsperspektiven. Die zentrale Frage nach dem culture clash zwischen im Westen sozialisierten Kommunisten und den Staatssozialisten aus Ost-Berlin wäre mit dem Konzept einer transnationalen Geschichtsschreibung durchaus erfolgversprechend zu erörtern. Warum akzeptierten die SED-Funktionäre niemals die ihnen von den "Bruderparteien" angebotene "kritische Freundschaft" und verlangten stattdessen "uneingeschränkte Loyalität" (144)?
Ebenso könnte sine ira et studio die Westpolitik der SED in Richtung Bundesrepublik erneut analysiert werden: Inwieweit ist es der SED - angesichts ihres arg begrenzten Einflusses auf die "Bruderparteien" im Westen - tatsächlich gelungen, etwa die Friedensbewegung oder neue soziale Bewegungen zu "steuern"? Auch der Einfluss des "unsichtbaren Dritten" und vielleicht "Vierten", der UdSSR bzw. der KPdSU, sowie der Bundesrepublik bzw. der KPD/DKP auf das jeweilige Verhältnis der SED zu den westeuropäischen Bruderparteien wäre eine Untersuchung wert. Zudem ist eine quellengestützte Analyse der letzten großen internationalen Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas im Juni 1976 in Ost-Berlin (in diesem Buch mehrfach angesprochen) überfällig. Denn hier wurde der halsbrecherische Spagat der SED offensichtlich: ein Schisma der kommunistischen Welt zu vermeiden und zugleich zu verhindern, dass reformerisches, eurokommunistisches "Gift" auch in der eigenen Partei Resonanz fand.
Einige Fehler hätten von einem aufmerksameren Lektorat bereinigt werden können, so etwa "die Intervention der UdSSR am Himalaja" (14) oder die Anmerkung zu Henning "Holt" (statt "Hoff", 120).
Arnd Bauerkämper / Francesco Di Palma (Hgg.): Bruderparteien jenseits des Eisernen Vorhangs. Die Beziehungen der SED zu den kommunistischen Parteien West- und Südeuropas (1968-1989) (= Forschungen zur DDR-Gesellschaft), Berlin: Ch. Links Verlag 2011, 253 S., ISBN 978-3-86153-658-1, EUR 29,90
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.