Dass eine Habilitationsschrift publiziert wird, nachdem die Verfasserin in den Ruhestand getreten ist, ist nicht alltäglich. Das dreibändige "ungeplante Lebenswerk" ist im Wesentlichen zwischen 1975 und 1990 entstanden und besteht aus zwei Teilen: der hier zu besprechenden Darstellung und aus 128 in zwei Bänden bereits 2003 publizierten Juristenbiografien.
Als Teilprojekt "Zusammensetzung und Sozialbeziehung des Reichskammergerichtspersonals 1548-1806" des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsschwerpunkts "Deutsche Sozial- und Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit" angelegt, fügt sich die Untersuchung in die Forschungen zur Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich ein, die zum Reichskammergericht nach dem erratischen, unvollständig gebliebenen Werk Rudolf Smends von 1911 seit den 1970iger Jahren einen ungeahnten Aufschwung genommen hat.
Anders als die neueren Forschungen zur Höchstgerichtsbarkeit, die auf Basis der mittlerweile weitgehend erschlossenen Prozessüberlieferung des Reichskammergerichts beruhen, behandelt die Untersuchung "nicht seine rechtsprechenden Funktionen und Leistungen, sondern seine Verfassung und seine Richter" (1). Damit verbunden war nicht ein traditioneller rechtshistorischer Forschungsansatz, sondern eine "konsequente Kombination und Integration verfassungs- und sozialgeschichtlicher Fragestellungen" (12), die in den Richterbiographien der zunächst publizierten zwei Bände fundiert war.
Prosopografisch musste Grundlagenforschung betrieben werden, die es erforderlich machte, die ursprüngliche Themenstellung einzuschränken. Die erste Einschränkung bezog sich darauf, dass nur das rechtsprechende Personal des Reichskammergerichts - Kammerrichter, Präsidenten und Assessoren - nicht aber - wie zunächst vorgesehen - auch das weitere juristische Personal, die Prozessvertreter - Advokaten und Prokuratoren -, einbezogen wurden. Der Untersuchungszeitraum, der ursprünglich 1548 beginnen sollte, ist auf die Zeitspanne vom Westfälischen Frieden bis zum Ende des Alten Reichs beschränkt. Dadurch kann zwar der Verlust der archivalischen Quellen des Reichskammergerichts durch die Zerstörung Speyers im Pfälzischen Erbfolgekrieg relativiert werden, doch musste die prosopografische Quellenbasis in mühevoller, auch archivalischer Detailarbeit geschaffen werden. Damit werden tiefe Einblicke in die Gerichts- und Reichsverfassung der Spätphase des Reichs ermöglicht, tiefer, als dies der ursprüngliche Forschungsansatz unter Einbeziehung der "Blütezeit" des Reichskammergerichts nach der Phase der Konsolidierung und der Entwicklung der Reichsverfassung erwarten lassen konnte.
Das Werk ist nach einer Einführung zum Stand der Erforschung des Reichskammergerichts und zum "Kameralkollegium als Gegenstand der Verfassungs- und Sozialgeschichte" in die vier Abschnitte "Funktion und Besetzung des Kammergerichts", "Das Personal des Kammergerichts", "Das Gruppenprofil der Assessoren [...] in der Spätphase des Alten Reichs" und "Die Personalverfassung unter Anpassungsdruck" gegliedert. Dabei bilden die zwei ersten Abschnitte die rechts- und verfassungsrechtliche Darstellung und die vom Umfang gleich starken Abschnitte "Gruppenprofil" und "Personalverfassung" die Auswertung der 128 zuvor publizierten Juristenbiografien.
Die Auswahl der Kandidaten für die Aufnahme in das Kameralkollegium des Reichskammergerichts als Gericht von Kaiser und Ständen lag in deren Zuständigkeit. Damit wurde das Richtergremium "bei richtiger Perspektivenwahl zum Spiegel der Reichsverfassung und ihrer Kraftfelder" (169). Durch das Präsentationswesen, ein "ausgeklügeltes Proporzsystem" (ebenda), an dem Kaiser, Kurfürsten und über die Reichskreise und Kreispräsentationen "die meisten Fürsten sowie zahlreiche kleinere Reichsstände beteiligt waren" (ebenda), wurden dem Reichskammergericht für ein Assessorat geeignet erscheinende Personen vorgeschlagen, die sich dort einer fachlichen Prüfung unterziehen mussten. Auch das Präsentationssystem, entstanden in der Reichsreform aus dem Dualismus von Kaiser und Ständen, hatte den Zweck, reichsweit qualifizierte Juristen zu rekrutieren und war Spiegelbild der Reichsverfassung und "Scharnier zwischen Verfassungs- und Sozialgeschichte" (Kapitel II.3.2).
Zum Dualismus von Kaiser und Ständen kam mit der "konfessionspolitischen Konfrontation im Reich" (212f.) Ende des 16. Jahrhunderts der nachreformatorische Dualismus der Konfessionsparteien. Die protestantischen Stände forderten Parität bei der Präsentation von Kandidaten auch bei den gerichtlichen Ämtern "im Vorzeichen des gespaltenen Rechtsdenkens" (210).
Ein Ausgleich wurde 1648/1654 gefunden, indem in Analogie zu den konfessionellen Corpora des Reichstags die Präsentation von nun an auf der Basis zweier, nach Konfessionen getrennter Schemata erfolgte. Das "Doppelschema" hatte zwar bis 1806 Bestand, doch offenbarten sich schon bald seine Schwächen - Unterbesetzung der Richterstellen, Komplikationen im Zusammenhang mit dem Paritätsprinzip, Streitigkeiten bei den Präsentationen -, die nicht behoben werden konnten. Das Präsentationssystem als verfassungsrechtliche Basis für die Besetzung der Assessorate charakterisierte die fachlich qualifizierten Bewerber "als Träger einer bestimmten reichsständischen oder kaiserlichen Präsentationsberechtigung" (331), die Sicherheiten und Ansprüche gewährte, nach den erfolgreich abgelegten Prüfungen am Reichskammergericht zur Aufnahme in das Kameralkollegium berechtigte, aber auch den Konfliktrisiken strittiger Präsentationen aussetzte.
Im zweiten Hauptteil werden die Biographien sowohl der erfolgreichen wie der gescheiterten Präsentierten ausgewertet. In den Ausführungen zum "Gruppenprofil der Assessoren", werden "geographische Herkunft", "Ausbildungsprofil und Assessorat" und "soziale Mobilität" untersucht, indem die jeweilige normative Entwicklung der Darstellung der Realität im 18. Jahrhundert vorangestellt wird. Das "Herkunftsprinzip", nach dem die Assessoren reichsweit rekrutiert werden sollten, um neben dem rezipierten auch das lokale Recht ihrer Präsentationshöfe anzuwenden, blieb bis zum Ende bestehen. Wichtige Voraussetzung für eine Präsentation war die Nähe zum Präsentationshof durch Vorkarrieren, Geburts- und Studienort. Dies wird für Kurbraunschweig, Kursachsen, Brandenburg-Preußen und Österreich und "das Reich als Herkunftsraum", illustriert durch zahlreiche Karten, dargestellt.
Die normative Entwicklung des Ausbildungsprofils - 1495 setzte sich das Richterkollegium noch je zur Hälfte aus unstudierten ritterbürtigen und graduierten Assessoren zusammen - führte im 16. Jahrhundert zum Erfordernis eines fünfjährigen Jura-Studiums für alle Assesoren; ein Qualifikationserfordernis, das nach 1648/54 nicht mehr beibehalten werden konnte. Gleichwohl haben sich die nachlassenden Anforderungen an die universitäre juristische Ausbildung, ergänzt durch postgraduale Praktika, trotz der Stagnation der Gesetzgebung nicht nachteilig auf die Arbeit des Reichskammergerichts und in den territorialen Gerichten ausgewirkt. Ausführungen zu "Assessorat und Mobilität", insbesondere unter den Aspekten "Soziale Herkunft", "Kapital", "Heiraten", "Beziehungen", "Akademische Grade und Nobilitierungen", zeigen, dass auch im 18. Jahrhundert - anders als bei den Parteivertretern - das Reichskammergerichtsassessorat zwar kein planbares Berufsziel war, Beziehungsgeflechte aber hilfreich waren, um eine Präsentation zu erhalten.
Als Resümee stellt die Verfasserin fest, dass im 18. Jahrhundert "das hohe Alter des RKG immer mehr zum Problem für die Personalverfassung des Kameralkollegiums" (672) wurde. Man mag diese Wertung auch auf die Reichsverfassung des 18. Jahrhunderts übertragen, für die hier ein über das Reichskammergericht hinausgehendes Grundlagenwerk geschaffen wurde.
Sigrid Jahns: Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich. Teil I: Darstellung (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 26), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2011, XXI + 783 S., ISBN 978-3-412-06403-7, EUR 59,90
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