Über Fragen der künstlerischen Identität, des Habitus und der Selbstinszenierung von Künstlerinnen und Künstlern wird seit geraumer Zeit wieder intensiv geforscht. [1] Die Konstruktion von Künstlerschaft ist seit langem ein Thema der Kunstgeschichte, genannt sei nur die Studie von Kris und Kurz über Topoi der Künstlervitenschreibung. [2] Die jüngsten Forschungen werten bevorzugt das reiche Material des 20. Jahrhunderts aus, haben die nicht minder ergiebige Produktion des 19. Jahrhunderts aber noch wenig beachtet. In der Literaturwissenschaft hat die Analyse (auto)biografischer Schriften eine lange Forschungstradition, wohingegen Selbstzeugnisse von Künstlern in der Kunstgeschichte immer noch gerne als Zitat-Steinbruch vermeintlich authentischer Aussagen ausgebeutet werden. Dass man es dabei nicht mit Naturgestein, sondern geglättetem, polierten und in Form gebrachten Material zu tun hat, lehrt die Studie von Saskia Pütz ausgehend vom Beispiel Ludwig Richters.
Die Einleitung führt methodisch und historisch in den Forschungsgegenstand und die Leitfragen ein, und dies in einer Weise, dass man sie jedem Studierenden der Kunstgeschichte als Lektüre über den Umgang mit diesem literarischen Genre empfehlen möchte. Pütz untersucht Richters Lebenserinnerungen mit Blick auf verschiedene literarische Gattungen - z.B. Künstlerautobiografie, Künstlerromane und pietistische Erbauungsliteratur. Weitere Quellen, wie Tagebuchnotizen und Briefe, leisten wertvolle Dienste, um Schilderungen in den Lebenserinnerungen mit früheren Aufzeichnungen zu konfrontieren. Beide Vorgehensweisen führen zügig zu der Erkenntnis: Es ist kein innerer Monolog, bei dem wir Richter belauschen. Es ist ein Text und der Text ist konstruiert, ist gemacht.
Der verbreiteten Annahme, Richter habe seine Autobiografie erst 1869 begonnen, setzt Pütz eine sorgfältig rekonstruierte Vorgeschichte entgegen, die bis in das Jahr 1852 zurückreicht. Da Richter verstarb, bevor er eine Endredaktion vornehmen konnte, gilt der Text bis heute als unvollendet; tatsächlich hat Richter seinem Sohn das Manuskript aber bewusst übergeben. Es entstand in engem Dialog mit Otto Jahn und dem Verleger Georg Wigand und war von Anfang an für die Veröffentlichung bestimmt, also keineswegs eine private Aufzeichnung. Der Zeitraum umfasst die Lebensspanne von der Geburt Richters bis ins Jahr 1847 und deckt damit, wie viele Biografien der Zeit, den Zeitraum bis zur familiären, beruflichen und gesellschaftlichen Konsolidierung ab. In Richters Schaffen trat zugleich die Malerei in den Hintergrund.
Pütz bindet die Entstehungsgeschichte an die Geschichte der Kunstgeschichte an, zu deren zentralen Darstellungsformen biografisch angelegte Arbeiten gehörten. Dass Manuskripte, in denen Künstler Rückschau auf ihre Leben und Werk hielten, von fremder Hand bearbeitet wurden, ist wohl bekannt. In welchem Ausmaß Kunsthistoriker und -kenner beteiligt waren, erstaunt dennoch - nach Pütz handelt es sich eher um die Regel als um die Ausnahme.
Da Künstlerbiografien wesentlich aus einem Interesse an einer auf den Autor zentrierten Interpretation des Werkes entstehen, lenkt Pütz die Aufmerksamkeit im 3. Kapitel auf die Darstellung, die Richter von seinem künstlerischen Werk gibt. Auch hier weitet sie den Blick über den Text hinaus, berücksichtigt die Diskussion um den Zusammenhang von Leben und Werk, wie sie bis etwa zur Jahrhundertmitte im Kunst-Blatt geführt wurde, sowie die Entwicklung der Verbindung von Monografie und Werkkatalog in der Kunstgeschichte.
Um Richters Strategie noch besser fassen zu können, werden als verwandte, doch alternative Modelle die Lebenserinnerungen von Carl Gustav Carus, Ernst Rietschel und Wilhelm von Kügelgen herangezogen. Immer wieder macht Pütz darauf aufmerksam, dass es sich um Texte handelt, die nicht nur bestimmten Mustern folgen, sondern die mit Strukturen und Motiven operieren, die die Rezeption bewusst steuern. Das gilt für die großen Entwicklungslinien ebenso wie für Einzelthemen wie den Prozess der Bildfindung.
Neben der ersten Kinderzeichnung inszeniert Richter in der Rückschau auf sein Leben das erste öffentliche Werk, den "Watzmann". Pütz legt ausführlich die Gründe für die Wahl des Motivs dar und arbeitet heraus, wie Richter die künstlerische Entwicklung als naturgemäße Entfaltung seiner wesensmäßigen Anlagen und Gemälde als direkte Umsetzung von Erlebnissen erscheinen lässt - die er in den Tagebüchern nicht als bemerkenswert festgehalten hatte. Sehr wahrscheinlich sind sie fiktiv, um eine bestimmte Sicht auf die eigene künstlerische Entwicklung und das Werk zu geben. Diesem Zweck dient auch die Ausblendung der von Beginn seiner Laufbahn an nachweisbaren Zusammenarbeit mit Verlegern und der Illustrationen für Volkskalender für ein breites Publikum.
Eine zentrale Bedeutung fällt bei Richter der Verbindung von Kunststreben und Unbewusstem, verstanden als schöpferisches Prinzip, zu. Carus' Schrift über das Unbewusste war hier wegweisend. Richter beschreibt den Prozess der Bildfindung nach dem Muster des Unbewussten, um scheinbar unzusammenhängende Ereignisse miteinander in Beziehung zu setzen. Damit grenzt er den Schaffensprozess als autonom von äußeren Fakten ab - ein Manöver, das er auch für seine Ausbildungszeit durchführt. Schon das Elternhaus diente als negative Folie, obwohl dessen nie angezweifelte Charakterisierung als beengter und einengender, bildungsferner Haushalt ebenso falsch ist wie Richters Behauptung, er habe die Akademie so gut wie nie besucht. Gleich in mehrfacher Hinsicht stilisierte Richter Rom zum Ort seiner Wiedergeburt, so auch für seine künstlerische Sozialisation, da er sich in Rom in eine größere Bewegung integriert sah, die gemeinsame Ziele verfolgte. Pütz sieht diese Selbsteinschätzung auch vor dem Hintergrund der Reichsgründung 1871 und erinnert daran, dass Richter durchaus nicht unpolitisch war und Verbindung zu national-liberal gesinnten Kreisen um Gustav Freytag unterhielt.
Welche Rolle der Glaube für Richter spielte, bezeugt der zuerst vorgesehene, dann verworfene Titel seiner Lebenserinnerungen: "Führung des Höchsten". Rom ist für Richter auch der Ort eines religiösen Läuterungsprozesses, den er nach dem Vorbild pietistischer Erbauungsliteratur modelliert. Pütz führt in die pietistischen Ideen und die Situation der protestantischen Gemeinde in Rom ein, zu der Richter bereits vor seiner Erweckung Kontakte unterhielt. Pütz' Recherchen zu diesem vernachlässigten Kreis sind so ergiebig, dass dem Schluss noch Exkurse über Bunsens Kirchenreform und den Bekenntnisstand der protestantischen Gemeinde in Rom folgen.
Pütz' Argumentation überzeugt, zumal es ihr gelingt, das komplexe Beziehungsgeflecht zu entwirren, ohne zu simplifizieren. Dennoch schleicht sich bei der Lektüre ein wenig Unbehagen ein. Ohne wieder in das Klischee des Unbewussten, des Harmlos-Biederen zu verfallen, drängt sich doch die Frage auf, wie sehr Richter wirklich gezielt - jetzt sei das Wort doch benutzt: manipulierte. An einigen Stellen scheint der Befund eindeutig, vielfach goss Richter aber wohl in einfache, bekannte Formen, was als Vorgang zu komplex und nicht ohne umständliche Erklärungen mitteilbar war. Hier wäre an die Frame-Theorie zu denken, aber auch an Erkenntnisse der Kognitionswissenschaften: Wie erinnert man sich an ein Ereignis nach 10, 20, 50 Jahren? Richter dürfte seinem Leben nicht nur für sein Publikum, sondern auch für sich selbst einen Sinn gestiftet und eine teleologische Entwicklungslinie heraus präpariert haben. Allerdings sind diese Aspekte mit kunsthistorischen Methoden wohl kaum zu vertiefen. Man mag aber Wolf Singers Definition von Erinnerungen als "datengestützte Erfindungen" [3] im Gedächtnis behalten.
Saskia Pütz legt eine Studie vor, die von der ersten bis zur letzten Seite durch die Dichte der Argumentation und eine Fülle neuer Einsichten besticht, die hier nicht einmal annähernd referiert werden können. Zugleich ist ihre Arbeit ein Beitrag zur Forschung über Ludwig Adrian Richter. Kaum ein Klischee, das Pütz nicht ausräumt, was anregen sollte, eine von den Lebenserinnerungen des Künstlers unabhängige Neubewertung seines Werkes in Angriff zu nehmen. Richter ist dabei in der Tat nur ein Exempel, an dem sich Überlegungen zur Künstlerschaft, deren Konstruktion und Kontextualisierung zu einem dichten Netz spinnen lassen. Fast beiläufig weist Pütz dabei auf gravierende Lücken in der Romantik-Forschung hin, und zeigt auch hier Wege auf, sie zu schließen, wie die Rolle der protestantischen Gemeinde. Die Studie von Saskia Pütz ist nicht anders als ausgezeichnet zu nennen.
Anmerkungen:
[1] Verena Krieger: Was ist ein Künstler? Genie, Heilsbringer, Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln 2007; Sabine Fastert: Spontaneität und Reflexion. Konzepte vom Künstler in der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis 1960, Berlin 2010; Sabine Fastert / Alexis Joachimides / Verena Krieger: Die Wiederkehr des Künstlers. Themen und Positionen der aktuellen Künstler/innenforschung, Köln / Weimar / Wien 2011.
[2] Ernst Kris / Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt a.M. 1980 (1934).
[3] Wolf Singer: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt a.M. 2002, 86.
Saskia Pütz: Künstlerautobiographie. Die Konstruktion von Künstlerschaft am Beispiel Ludwig Richters (= Berliner Schriften zur Kunst; Bd. XXIII), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2011, 364 S., 11 Farb-, 28 s/w-Abb, ISBN 978-3-7861-2657-7, EUR 59,00
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