Krise und Wandel - Süditalien im 4. und 3. Jahrhundert v.Chr. lautet der Titel des von Richard Neudecker herausgegebenen Sammelbandes in der Palilia-Reihe des Deutschen Archäologischen Instituts Rom. Darin werden in zwölf Beiträgen die Ergebnisse eines internationalen Kongresses präsentiert, der im Jahre 2006 anlässlich des 65. Geburtstags von Dieter Mertens in Rom stattgefunden hat.
Bereits in der Einführung des Herausgebers (15-20) wird die Aktualität der einzelnen Forschungsergebnisse vor allem in Bezug auf die archäologischen Neufunde betont. Pierre Giovanni Guzzo zeigt in seinem Artikel (21-26) über die Brettier in Unteritalien die Schwierigkeiten auf, die sich aus der Beschäftigung mit einem italischen Volksstamm ergeben, über den es nur unzureichende archäologische Forschungsergebnisse gibt. Luxuriöse Alltagsgegenstände, aufwendige Bestattungsriten und wertvolle Grabbeigaben zeugen von der Wirtschaftskraft dieses Volkes. Zwar beweisen die Funde die Prosperität der Brettier, dagegen ist über ihre urbane Lebensweise kaum etwas bekannt. Daher schlussfolgert Guzzo, es habe sich bei diesem Stamm lange Zeit um ein Nomadenvolk gehandelt, das sich zum Großteil im Hinterland bewegte. In der Mitte des 4. Jahrhunderts v.Chr. sah es sich gezwungen, zum Schutz gegen die griechischen Mächte eine Befestigungsanlage zu errichten. So grenzte es zugleich auch den eigenen Einzugsbereich ab. Im Gegensatz dazu stehen beispielsweise die wohl seit prähistorischer Zeit bestehenden elymisch-sikanischen Höhensiedlungen im Hinterland von Selinunt, denen sich im folgenden Beitrag (27-37) Andreas Thomsen annimmt. Ihm gelingt es anhand der Ergebnisse der durchgeführten Feldforschungen in Pizzo Don Pietro-Castello della Pietra den unmittelbaren Einfluss der griechischen Kolonisatoren auf indigene Siedlungsstrukturen nachzuweisen. Von einer Übernahme dieser Region durch die Griechen ist nicht auszugehen, da es hierfür - ebenso wenig wie für eine dauerhafte Hellenisierung des Gebiets - nicht ausreichend Beweismaterial gibt. Auf die zunehmende Zentralisierung des selinuntinischen Hinterlandes deutet schließlich das Fehlen einheimischer Keramik aus dem 5. und 4. Jahrhundert v.Chr. hin. Dies interpretiert Thomsen als ein Zeichen von dynamischen Migrationsbewegungen.
Alessandro Naso unternimmt in seinem Beitrag (39-53) mit Hilfe der Funde italischer Weihgaben, insbesondere militärischer Objekte, einen Streifzug durch griechische Heiligtümer. Sein Hauptaugenmerk liegt auf den Votiven, die in der Zeit vom 8. bis 5. Jahrhundert v.Chr. (vermutlich) als Dankesopfer dargebracht wurden. Die zahlenmäßige Dichte derartiger Weihungen in der Zeit der frühen Landnahmen im 7. Jahrhundert v.Chr. sowie in den Krisenzeiten des 5. Jahrhunderts v.Chr. ist dabei auffällig. Möglicherweise steht die daraufhin einsetzende Reduktion solcher Votivbeigaben im Zusammenhang mit einem Gesetz über ein Verbot von Waffenweihungen, das in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v.Chr. in Olympia erlassen wurde. Sein Beitrag endet mit einer kenntnisreichen und detaillierten Analyse eines Koppels und eines Helmes aus Olympia, die italischen Ursprungs sind.
Mit dem Aufsatz von Stefano Vasallo (55-77) beginnt eine Reihe von Beiträgen, die sich vor allem mit Fragen des strukturellen und damit einhergehend kulturellen Wandels verschiedener Siedlungen befassen. Während Vasallo sich dabei auf die Küstenregionen und ihr Hinterland in Nordsizilien nach dem Karthagereinfall von 409 v.Chr. konzentriert, setzt sich Maurizio Gualtieri (79-88) mit der Organisation von Siedlungsplätzen in Unteritalien, insbesondere im Lukanien des 4. und 3. Jahrhunderts v.Chr., auseinander. Überraschenderweise ist in Nordsizilien in der Folgezeit des Krieges ein wirtschaftlicher Aufschwung festzustellen, der wohl durch die gesteigerte Kreativität und Produktivität der nun sehr heterogenen, ortsansässigen Bevölkerungsgruppen zu erklären ist. In diesem Zusammenhang stellt Vasallo erstmals die neuesten Forschungsergebnisse zum Theaterbau von Ippana auf dem Montagna die Cavalli vor. Gualtieris Beitrag schließt insofern an als auch in den Hinterlanden Unteritaliens die Gründe für die nun anhaltende Prosperität in der Zusammensetzung der ethnischen Gruppierungen und der sich wandelnden Agrarökonomie zu suchen sind - fernab der kriegerischen Auseinandersetzungen an der Küste. Am Beispiel einiger in der Mesogaia liegenden Siedlungen stellt im Anschluss (89-106) Massimo Osanna verschiedene Modelle für lukanische Siedlungsformen vor. Dabei betont er die zentrale Rolle der Agrarlandschaft bei deren Konstituierung. Das Phänomen der so genannten "indigenen Urbanisation" (103) trifft wohl auch auf Cersosimo und Torre di Satriano zu, die beide als Verwaltungszentren gedient zu haben scheinen. Allerdings muss man hier wohl von einer plötzlich einsetzenden Veränderung der Siedlungsformen ausgehen, denn der archäologische Befund erlaubt es nicht, einen schrittweisen Wandel zu rekonstruieren.
Die nachfolgenden Beiträge von Roberto Spadea (107-120) und Enzo Lippolis (121-145) behandeln die Wechselwirkungen von Krise und Wandel anhand allseits bekannter Orte wie Kroton und Tarent. So scheinen die außenpolitischen Bedrohungen und kriegerischen Auseinandersetzungen, denen sich beide Städte insbesondere im 4. Jahrhundert v.Chr. aus verschiedenen Gründen stellen mussten, eine Art Stimulanz für das Wirtschaftswachstum gewesen zu sein. Im Detail wird dies vor allem anhand der Keramik erörtert - ihre Produktionsstätten und ihre weite Verbreitung zeugen von einem produktiven Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Der Handel florierte. Aber auch die Veränderungen in den urbanistischen Strukturen und die Erweiterung der Stadtgrenzen spiegeln das demographische Wachstum, Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit einzelner Siedlungen.
Den Beiträgen von Hans Peter Isler (147-173) und auch Sophie Helas (175-191) ist zu entnehmen, dass ein bedeutender Wirtschaftsfaktor auch im 4. und 3. Jahrhundert v.Chr. noch das "menschliche Kapital" (19) war: Ein altbewährtes Mittel zur Belebung nur wenig frequentierter oder gar verlassener Regionen war die Umsiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen. Isler nimmt das Beispiel von Monte Iato auf, Helas bewegt sich in ihrem Artikel im sizilischen Westen und untersucht die Instrumente der karthagischen Machtsicherung in Selinunt. So stellt sich heraus, dass die bevölkerungspolitischen Mittel - wie Truppenstationierungen und Umsiedlungen - die elementaren und wohl auch effektivsten Maßnahmen zur Sicherung von Macht bilden.
Abschließend verbindet Malcom Bell, III in seinem Artikel (193-211) die vorangehenden Themen und aufgestellten Thesen am Beispiel des frühhellenistischen Sizilien unter Hieron II.: Das Zusammenwirken von Agrarpolitik, Theokrits bukolischer Dichtung und figürlicher Kunst spiegelt einerseits in eindrucksvoller Weise die Herrschaftskompetenz dieses Königs wieder, anderseits aber auch die geistige Verfassung der Gesellschaft, die in seinem Herrschaftsbereich lebte.
Krise und Wandel werden im vorliegenden Band als ein sich gegenseitig bedingendes Gefüge verstanden. Einige Autoren präsentieren innerhalb dieses thematisch vorgegebenen Rahmens schlicht aktuelle Forschungsergebnisse und Fragestellungen, andere wiederum arbeiten sorgfältig mit den bisher zur Verfügung stehenden Informationen und wagen erste Interpretationen. Ganz im interdisziplinären Sinne und in der Tradition von Dieter Mertens wird von den jeweiligen Verfassern an den entsprechenden Stellen das archäologische Material mithilfe der uns zur Verfügung stehenden Schriftquellen ergänzt und eine Einbettung in den historischen Kontext vorgenommen. Die reiche Bebilderung des gesamten Bandes trägt in anschaulicher Weise zum Verständnis bei. Das dem Sammelband vorangestellte Schriftenverzeichnis von Dieter Mertens (7-13) sowie die bibliographischen Angaben am Ende eines jeden Beitrages tragen zur Übersichtlichkeit bei und runden diesen empfehlenswerten Sammelband in praktischer Weise ab.
Richard Neudecker (Hg.): Krise und Wandel. Süditalien im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. (= Palilia; Bd. 23), Wiesbaden: Reichert Verlag 2011, 211 S., ISBN 978-3-89500-865-8, EUR 29,90
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