Nicht von ungefähr erregte die von April bis August 2012 in der Karlsruher Kunsthalle gezeigte Ausstellung "Déjà vu - Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube" erhebliche Aufmerksamkeit in den Feuilletons der deutschen Tagespresse. Gelang es ihr doch mit intelligent ausgewählten und höchst anschaulich gehängten Beispielen, einen gerade in den Feuilletons vielfach gehuldigten, dem Geniekult des 19. Jahrhunderts verpflichteten Originalitätsbegriff zu hinterfragen und das Verhältnis von Original und Kopie einer Neubewertung zu unterziehen. Einem erfreulich breiten Publikum diente diese geistreiche Schau als Schule des Sehens und als Reflexion des sich wandelnden Kunstbegriffs. Die Ausstellung und das gleichnamige Begleitbuch resultieren aus einer mehrjährigen Zusammenarbeit zweier Karlsruher Institutionen, der Staatlichen Hochschule für Gestaltung (Wolfgang Ullrich, Wilfried Kuehn sowie Studierenden) und der Staatlichen Kunsthalle (Ariane Mensger, Alexander Eiling, Juliane Betz).
Dass Themen in der Luft liegen, gilt zweifellos auch für den Gegenstand dieses Projektes. Begriffe von Autorschaft und Authentizität wurden auf postmodernem Fundament neu bewertet, gleichzeitig sind im digitalen Zeitalter des Copy & Paste weiterhin Urheberrechtsfragen zu klären. Ausstellung und Katalog verfolgen das Ziel, die Kopie als historisches Phänomen zu rekonstruieren und die "Erzählung der Kunstgeschichte als einer linearen Fortschrittsgeschichte" (21) zu dekonstruieren. Definition und Bewertung von Original und Kopie, so machen Ausstellung und Buch zweifelsfrei deutlich, sind zeit- und kontextgebunden.
Im Wettstreit zwischen Ausstellung und Katalog punktet zunächst die unmittelbare Anschauung, da hier Formatunterschiede und Wahl künstlerischer Techniken Strategien der Aneignung direkt augenfällig machten. Diachrone Ansätze der Ausstellungshängung fügten punktuell der Gegenüberstellung Original-Kopie eine Kommentarebene hinzu, wenn etwa eine Reihe zum Bildtypus "Vera icon" der Beuysschen Ikone "La rivoluzione siamo noi" sowie deren Adaptionen durch Elaine Sturtevant und G.R.A.M. gegenüber hing.
Das Begleitbuch, klassisch unterteilt in Aufsatz- und Katalogteil, bietet zunächst eine luzide Einführung in das Themenfeld von Ariane Mensger. Nachdem sie das komplementäre, einander bedingende Verhältnis von Original und Kopie festgestellt hat, widerspricht sie dem Benjamin'schen Diktum des Auraverlustes durch Vervielfältigung. Vielmehr steige Bekanntheitsgrad und Bedeutung des Originals durch die Zirkulation von Kopien. Ein Blick in die Kunstgeschichte relativiert die Bevorzugung des Originals. Diente im Mittelalter beispielsweise die Orientierung an existierenden Bildern der Qualitätssicherung und der "ikonographischen Glaubwürdigkeit" (33), so bezeugt die hohe Werkschätzung, die unter der Aufsicht von Rubens entstandenen Werkstattarbeiten und grafischen Reproduktionen entgegen gebracht wurde, dass "Qualität [...] das entscheidende Kriterium [war], nicht Originalität" (38). Mensger schlägt den Bogen bis zur Kunst in Zeiten der Postmoderne, in der "Kopieren als künstlerisches Konzept" (44) erhoben wurde.
Die folgenden elf Aufsätze setzen den Anspruch einer historisch differenzierten Betrachtung der Kopie mit Fallbeispielen um. Entgegen des Buchtitels setzen die Überlegungen jedoch nicht mit Dürer ein, sondern mit einem, die umfangreiche Literatur zur Kopienproduktion bei Rubens und seinem Umfeld paraphrasierenden Text (Agnes Tieze). Poussins Kritik an schlechten, seinen Ruf schädigenden Kopien stellt Henry Keazor die reflexive Adaption eines Poussin-Gemäldes durch Antoine Fort-Bras gegenüber. Gut 50 Jahre nach Entstehen von Poussins "Das Reich der Flora" thematisiert Font-Bras ein Trompe-l'œil, das neben einer verkleinerten Kopie des Gemäldes auch eine vermeintliche Vorzeichnung darstellt, das Kopieren selbst. Bärbel Küster rekonstruiert überzeugend drei Funktionen, die Kopien in den Sammlungen italophiler Engländer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einnehmen konnten. Sie ergänzten Galerien in Hinblick auf einen kunsthistorischen Kanon, hatten einen Eigenwert mittels künstlerischer Handschrift oder waren im Rahmen eines Gesamtkonzepts Teil des interior designs.
Drei Aufsätze widmen sich dem Komplex Kopie und Reproduktion im 19. Jahrhundert. Martina Dlugaiczyk zeigt, wie ein malender Kopist sein Werk von der technischen Reproduktion durch Fotografie abhob. Juliane Betz fasst die Entwicklung (foto-)grafischer Reproduktionen und die Verbreitungsgeschichte derselben zusammen. Alexander Eiling zeigt die praktischen Schwierigkeiten, die das Kopistenwesen im Louvre mit sich brachte, und zeichnet plausibel die Entwicklung von der "getreuen zur interpretierenden Kopie" (102) nach. Gerd Roos stellt die extensive Kopierpraxis Giorgio de Chiricos vor, dessen Repliken und Varianten eigener Werke kaum mit dem modernen Originalitätsbegriff zu fassen sind. Ähnliches trifft, wie Lars Blunck in spielerischer Form darstellt, auf die verschiedenen Neufassungen des Flaschentrockners durch Marcel Duchamp zu. Diese Anfänge eines konzeptuellen Umgangs mit Kopien verdichten sich Ende der 1970er-Jahre zur Appropriation Art. Deren Idee, durch Aneignung vorhandener Werke eigenständige Kunstwerke herzustellen, skizziert Christoph Zuschlag souverän. Anschließend erhebt Wolfgang Ulrich das Kopieren, also das Nutzen überlieferter Bildwelten zu einem Mensch und Gesellschaft stabilisierenden Faktor: "Wenn zu vieles einmalig ist, geht die Orientierung verloren; Unsicherheitsgefühle gewinnen die Oberhand." (142) Das Szenario einer zukünftigen, sich bescheiden an der Tradition orientierenden Kunst -"'Originalität' wird dann einen ähnlichen Klang wie 'Obszönität' haben" (145) - zementiert unter umgekehrtem Vorzeichen eine hierarchische Bewertung von Kopie und Original, die Ausstellung und Katalog eigentlich zu überwinden trachteten. Wohltuend sachlich gibt Thomas Dreier zu guter Letzt einen Überblick über rechtliche Fragen des Kopierens und Zitierens.
Der eigentliche Katalog der ausgestellten Kunstwerke definiert zunächst 22 unterschiedliche Formen des Kopierens (von "Auftragskopie" bis zu "Wiederholung als Ritual"). Diese Stichworte sind dann den einzelnen Katalognummern beigefügt, Doppelnennungen zeigen die Unschärfen dieser lobenswerten Systematisierung auf. Die Katalognummern würdigen sinnvollerweise Original und Kopie(n) in einem gemeinsamen Eintrag. Wenn zum Beispiel sowohl Géricault, Delacroix und Fatin-Latour sich malerisch mit Tizians im Louvre befindlicher Grablegung auseinandersetzten, werden diese drei Gemälde, ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten, in einem zusammenhängenden Eintrag besprochen.
Das in guter Druckqualität vorliegende und großzügig mit Bildern ausgestattete Buch ist eine mit Gewinn zu lesende Einführung in ein virulentes Thema. Es bezieht seinen besonderen Reiz aus der epochenübergreifenden Betrachtung und den an verblüffenden Beispielen reichen Katalogteil. Es lohnt, sich das Buch mehrfach zur Hand zu nehmen, denn - frei nach Elaine Sturtevant - "Wiederholen bedeutet Denken".
Ariane Mensger / Staatliche Kunsthalle Karlsruhe / Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (Hgg.): Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis You Tube, Bielefeld: Kerber Verlag 2012, 324 S., ISBN 978-3-86678-676-9, EUR 39,95
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