Wenn Sammelbände die Existenzberechtigung einer Institution dokumentieren können, so ist das hier anzuzeigende Buch aus dem Universitätsarchiv Wien dafür ein wohlgelungenes Beispiel. Aus mehreren Wiener Kolloquien hervorgegangen, herausgegeben von Vertretern des Universitätsarchivs und des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, mit einem zusammenfassenden auswärtigen Vortrag des Mitherausgebers angereichert, öffnet es seinen Lesern farbig und zuverlässig unterschiedliche Aspekte der Geschichte der ersten drei Jahrhunderte der Alma mater Viennensis, stets kritisch und darum bemüht, verschiedene Aspekte der im Archiv ruhenden Quellen zur Geltung zu bringen. Fast alle Beiträge zeigen das Bemühen, die Wiener Gründung, die hier (etwa 60ff.) - im Wechsel mit der sonst üblichen Terminologie einer "Gründung" - aus zweifelhaften Gründen und wohl im Gefolge einer Marotte von Michael Borgolte und seinen Schülern immer wieder als "Stiftung" apostrophiert wird, in einen weiten Vergleichsrahmen der europäischen Universitätsgeschichte einzuordnen.
Die Herausgeber haben eine vorsichtige Einteilung der Beiträge in vier Gruppen vorgenommen. Zuerst behandelt wird die "Gründung und Verankerung (der neuen Universität) im Umfeld". Karl Ubl (Die Universität als Pfaffenstadt, 17-26) behandelt die im Konzert der deutschen Gründungsuniversitäten ungewöhnliche Planung eines ganzen Stadtteils für die Neugründung in der Urkunde Herzog Rudolfs, für die ein ganzes, genau beschriebenes Stadtviertel in Wien hätte freigeräumt werden müssen. Dass es dazu wegen des frühen Todes Rudolfs nicht kam, hat bisher spekulative Deutungen dieser erstaunlichen Absicht nicht verhindert. Ubl fügt dem die Überlegung hinzu, der Herzog habe sich am "Quartier Latin" in Paris orientiert, dieses freilich nach dem Modell eines collegium/Collège weiterentwickelt. Übersehen hat er bei dieser Überlegung wohl, dass in Bologna eine (hohe) Mauer eine Straße mit Unterrichtsräumen von dem angrenzenden Nuttenviertel abgeschlossen hat, sicherlich nicht aus Rücksicht auf den Bautyp eines Collegium, sondern zur Abgrenzung der tatendurstigen jugendlichen Studenten von Bürgern und ihrem möglicherweise exzessiven Leben. Man wird, so meine ich, die außerordentliche Absicht Rudolfs also doch etwas weitläufiger in das Konzert der europäischen Konkurrenten einzuordnen haben, wenngleich die mangelnde Realisierung des Vorhabens uns überzeugende Vorbilder oder Wirkungen solcher Bauabsichten vorenthält. Harald Berger (Personen, Lehrveranstaltungen und Handschriften aus der Frühzeit, 27-36), Christian Lackner (Wissen für den Hof, Die Universität Wien und der Hof der österreichischen Herzoge [!] im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert, 37-51) und Kurt Mühlenberger (Universität und Stadt im 14. und 15. Jahrhundert, 53-83) setzen den Rundblick auf die junge Universität in ihrer Umwelt im ersten Jahrhundert fort, wobei naturgemäß einige Redundanzen, etwa zur "Pfaffenstadt" entstehen. Die dichte Beschreibung auf der Basis einer intensiven Nutzung früherer Forschungen, wie sie für Wien immer vorausgesetzt werden können, entschädigt jedoch durch unterschiedliche Perspektiven für diese mehrfache Facettierung.-
Eine zweite umfängliche Gruppe von Aufsätzen stellt Probleme der Lehre in den Mittelpunkt (Lehrende, Lernende und Lehrinhalte). Hier darf man sowohl interessante neue Details zum Artes-Unterricht zur Kenntnis nehmen, aus dem Handschriftenschatz von Melk geschöpft, in dem nicht weniger als etwa 60 Mss. auf die Wiener Artes-Fakultät zurückverweisen (Christine Glassner, Wiener Universitätshandschriften in Melk, 87-99), als auch eine prosopographisch gestützte Untersuchung der Attraktion, die Wien für Studierende und Professoren hatte (Christian Hesse, Die Anziehungskraft der spätmittelalterlichen Universität Wien auf Studenten und Gelehrte, 101-112 - mit 4 Karten zu Herkunftsorten 1460/70 und 1540/50). Meta Niederkorn-Bruck will die Stimme der Universität Wien im Wissenskonzert an der Wende zum 16. Jahrhundert vernehmbar machen (113-140 mit 4 s/w-Abb. aus Hss.) und untersucht damit die Attraktion Wiens am Beginn der Neuzeit. Ulrike Denk (Studentische Armut an der Universität Wien, 141-158) widmet den Bemühungen der Habsburger um die gerade in Wien zahlreichen pauperes scholares eine eingehende Analyse.
Ein dritter Abschnitt der Sammlung geht archivgerecht auf Quellen und Quellenerschließung ein. Peter Czendes schöpft aus seiner bewährten Expertise, wenn er erneut das Thema Universität und Stadt aufgreift und Universitätsangehörige im Spiegel städtischer Quellen aufsucht, bezeichnenderweise sehr knapp: 161-167; in der Großstadt Wien fielen die Universitätsleute nicht so stark ins Gewicht. Was aus archäologischen Grabungen für die Universitätsgeschichte zu lernen ist, trägt Thomas Kühtreiber vor (Universitätsgeschichte aus Schutt und Scherben, 169-205, mit 16 Plänen, Karten u. Abb.). Frau Niederkorn-Bruck (Die Universität und die Verschriftlichung ihrer Identität, 207-212) widmet sich dann den Acta universitatis Vindobonnensis, deren Fortsetzung über die wichtigen Anfänge, die durch Paul Uiblein ediert wurden, hinaus sicherlich nicht allein der Rezensent dringlich erwartet. Den Nachlass Uibleins mit seinen gehaltvollen Zettelkästen zur Frühgeschichte der Universität stellt in einem "Werkstattbericht" Johannes Seidl vor (213-219).
Schließlich werden noch in einem vierten Teil "Humanistische und jesuitische Einflüsse" an drei Einzelbeispielen exemplarisch verfolgt. Hier wurde dem Rezensenten allerdings die interne Verbindung beider Themen nicht recht deutlich. Zudem kann allein Conrad Celtis, vorgestellt von Helmut Groessing (223-233) auf allgemeine aus Kenntnis gespeiste Erwartung rechnen, während der Beitrag von Marija Wakounig (235-244) einen Zuarbeiter und Freund Herbersteins vorstellt, der eher Spezialisten der osteuropäischen Geschichte bekannt sein dürfte. Der Beitrag von Gernot Heiss (245-269) wendet sich den beginnenden jesuitischen Studien der Artes und der Theologie in der Frühen Neuzeit zu. Damit verlässt er aber die mittelalterliche Universität, um gewissermaßen durch diesen engen Spalt auf die Zukunft zu blicken.
Ein Personen-, ein Ortsregister und ein Verzeichnis der benutzten Handschriften erschließen die Informationen des gut redigierten und zuverlässig gedruckten Bandes, der dem Wiener "Institut" und Archiv alle Ehre macht. Man wünschte sich ähnliche Aktivitäten abseits von Jubiläumsfeierlichkeiten auch anderwärts.
Kurt Mühlberger / Meta Niederkorn-Bruck (Hgg.): Die Universität Wien im Konzert europäischer Bildungszentren. 14.-16. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung; Bd. 56), München: Oldenbourg 2010, 278 S., 3 Farbtafeln, ISBN 978-3-486-59224-5, EUR 49,80
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