Die Erforschung der Hofkultur der Frühen Neuzeit kann auf sehr unterschiedliche Weise erfolgen, beispielsweise indem zeremonial-wissenschaftliche Fragestellungen in den Vordergrund gerückt werden oder aber danach gefragt wird, wie - ganz praktisch - Feste und Zeremonien organisiert, durchgeführt und abgewickelt wurden. Das vorliegende Buch der langjährigen Wormser Museumsleiterin Mathilde Grünewald bedient sich beider Zugriffe, um das Mainzer Sakristeibuch aus den Jahren 1545 und 1546 (Liber ordinarius, Martinus Bibliothek Mainz, HS 92) dem heutigen Leser nahezubringen. Dabei machen Aufbau, Gestaltung und Inhalt schon deutlich, dass die Verfasserin den interessierten Laien als Adressaten ihrer Ausführungen im Blick hat, aber auch der Fachhistoriker [1] wird es mit Gewinn lesen und vielleicht sogar nutzen - und zwar in der Küche. Das Buch gliedert sich nämlich in zwei Teile: Erläuterungen zum Liber ordinarius und Rezepte, die ein Nachkochen der im Liber ordinarius aufgeführten Menüs erlauben.
Der Mainzer Liber ordinarius von 1545 und 1546 enthält detaillierte Beschreibungen der Beisetzung von Kardinal Albrecht von Brandenburg sowie der Wahl und Weihe seines Nachfolgers Sebastian von Heusenstamm. In beiden Fällen werden auch die zu diesen Anlässen gekochten Menüs vorgestellt. Den Beweggrund, sich mit diesen Menüs näher zu beschäftigen, formuliert die Verfasserin so: "Immer mehr erkannte ich, dass das Speisen bei Hofe in erster Linie nicht Überfluss und Prunk ausdrückte, sondern dass ein feinabgestuftes und abgestimmtes Denken jedes Menü bestimmt hat." (7) So hat sie sich denn daran gemacht, mit Hilfe zeitgenössischer Rezeptbücher die damaligen Speisen nicht nur zu rekonstruieren, sondern auch entsprechende Rezepte einzurichten, die ein problemloses Nachkochen ermöglichen.
Der darstellende Teil beginnt mit einer knappen Hinführung zum Thema des Buches (9), um dann auf einer Seite die Haus- und Hofhaltung Albrecht von Brandenburgs anhand der Hofordnung von 1532 zu charakterisieren: "Im Alltag sollten an seinem Hof Friede im Miteinander der Bediensteten und Sparsamkeit in Küche und Keller herrschen." (11) Am 24.9.1545 verstarb der Kardinal - eine der zentralen Gestalten der Reformationszeit, wie zahlreiche Publikationen und Ausstellungen in der jüngsten Vergangenheit herausgearbeitet haben [2] - in der Mainzer Martinsburg. Die Beisetzung im Mainzer Dom erfolgte bereits am 28.9., während am 5.10. ein zweiter Trauergottesdienst stattfand. Diesem schloss sich auf Einladung des 24-köpfigen Mainzer Domkapitels der Leichenschmaus für ca. 100 Personen an (13). Insgesamt neun Gänge wurden serviert, die von der gebratenen Rehkeule bis zu Käse und Gebäck reichten (15), wobei neben dem geschmacklichen Höhepunkt des "Großen Gebratenen", das aus dem Fleisch junger Tiere (Huhn, Kalb, Hase, kleine Vögel) bestand, auch die wechselnde Farbe der Gerichte "die Speisenden erfreuten" (19).
Bereits am 20.10.1545 fand die Wahl des neuen Erzbischofs Sebastian von Heusenstamm durch das Domkapitel statt, dem auch der Gewählte angehörte. Hatte man den alten Erzbischof mit gerade einmal neun Gängen verabschiedet, wurde der neue mit beachtlichen 24 Gängen begrüßt. 60 bis 80 Teilnehmer dürften in den Genuss der Speisen gekommen sein, wobei das "Domkapitel [...] mit Heiterkeit, lauter Freude und stillem Vergnügen" feierte, wie es im Sakristeibuch heißt (21).
Ein gutes halbes Jahr dauerte es, bis der Papst der Wahl Heusenstamms durch das Domkapitel zustimmte und schließlich am 2.5.1546 die Weihe und Inthronisation des neuen Erzbischofs im Dom zu Mainz erfolgen konnte. 240 Teilnehmer speisten anschließend in der Martinsburg (27), wobei das Sakristeibuch 14 verschiedene Gerichte nennt (29). Zu Recht weist die Verfasserin darauf hin, dass man die üppige Speisenfolge nicht als "Völlerei und Verschwendung" (32) missverstehen darf, sondern als Teil der standesgemäßen Repräsentation. Zur besseren Einordnung der Mainzer Menüs stellt sie im Folgenden dar, wie man damals in Gasthäusern speiste (33ff.). Auch hier ging die Speisenfolge mitunter wild durcheinander bzw. wurden die verschiedenen Speisen gleichzeitig in Schüsseln aufgetragen, aus denen sich die Gäste nach Belieben bedienten.
Ausführlich setzt sich die Verfasserin mit der Frage auseinander, wie die Menüs damals gekocht wurden. Dabei greift sie auf zeitgenössische Kochbücher zurück, wie das von Marxen Rumpolt aus dem Jahr 1581 (37-40). Begriffserläuterungen (41f.), eine kurze Darstellung der Kochsitten in verschiedenen Ländern (43) sowie die Erläuterung der wichtigsten Zutaten (44ff.) leiten zum Rezeptteil über, der mit nahezu 100 Seiten den umfangreicheren Teil der Publikation ausmacht. Den Rezepten vorangestellt sind noch kurze Erläuterungen dazu, "wie man heute den Geschmack der Renaissance auf den Tisch bringt" (47). Die nun folgenden Rezepte werden immer eingeleitet durch die entsprechenden Angaben aus zeitgenössischen Rezeptbüchern, wie denen von Marxen Rumpolt, Franz de Rontzier und Sabine Welser. Mathilde Grünewald hat alle Rezepte selbst entwickelt und ausprobiert, wobei der Fotograf Klaus Baranenko die Speisen und deren Zubereitung dokumentiert hat. Die Fotografien wirken - anders als bei modernen Kochbüchern üblich - sehr naturalistisch und auf das Wesentliche konzentriert.
Was wird nun an Rezepten geboten? Hierzu eine kleine Auswahl aus dem Verzeichnis der Rezepte (49): Apfelpastete, Biersuppe, Eier mit Lauch und Senf, englische Hackfleischpastete, geräucherte Forellen mit Spinat oder Petersilienwurzelsauce, Huhn mit weißer Sauce, Kalbs- oder Ochsenfüße, Kaninchen, Krebsschnitten, Lamm mit grüner Sauce, gefüllte Quitten in einer Pastete, gefüllte Salbeiblätter, Wachtelbrey, Wildente und Stubenküken, Keule vom jungen Wildschwein, Zunge mit Stachelbeeren etc.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass sich die Verfasserin wohl informiert über den Stand der Hof- und Residenzenforschung zeigt, wenngleich ihre Literaturauswahl am Ende des Buches diesbezüglich etwas knapp ausfällt (148f.). Die Einsatzmöglichkeiten des Buches in der Vermittlung von Geschichte sind vielfältig, werden sicherlich aber vor allem die Museumspädagogik nachhaltig befruchten. Auf jeden Fall tritt es den Beweis an, dass nicht nur Liebe, sondern auch Geschichte durch den Magen gehen kann.
Anmerkungen:
[1] An diesen richten sich vielmehr die an anderer Stelle publizierten Ausführungen der Verfasserin: Mathilde Grünewald, Schmausende Domherren oder wie sich Politik zum Essen verhielt. Mainzer Menüs 1545 und 1546 aus dem Sakristeibuch des Mainzer Doms, in: Bibliotheca S. Martini Moguntina. Alte Bibliothek - neue Funde, hg. von Helmut Hinkel, Mainz 2012, 215-240.
[2] Siehe z.B.: Thomas Schauerte / Andreas Tacke (Hgg.): Der Kardinal Albrecht von Brandenburg. Renaissancefürst und Mäzen, Ausst.-Kat. Stiftung Moritzburg Halle, 2 Bde., Regensburg 2006.
Mathilde Grünewald: Schmausende Domherren oder wie Politik auf den Tisch kommt. Mainzer Menüs 1545 und 1546, Lindenberg: Josef Fink 2012, 150 S., ISBN 978-3-89870-776-3, EUR 24,90
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