"Und die Verfolgung wirklich Unschuldiger?" Diese Worte notierte der Leiter des Büros von Außenminister Hans-Dietrich Genscher, Gerold Edler von Braunmühl, auf einer Aufzeichnung über das Gespräch von Bundeskanzler Helmut Schmidt mit dem Ersten Sekretär des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, János Kádár, am 27. April 1982 in Bonn. Schmidt und Kádár sprachen unter anderem über den früheren Ersten Sekretär des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (1970-1980), Edward Gierek. Der Bundeskanzler äußerte sich dabei wie folgt: "[...] würde man die Hand auf Gierek legen, so hätte dies bei uns sehr negative Auswirkungen". [1] In Braunmühls Bemerkung drückte sich der Ärger darüber aus, dass Schmidt das Schicksal eines einzelnen thematisierte, nicht aber auf das von einigen tausend Menschen hinwies, die seit der Verhängung des Kriegsrechts in Polen am 13. Dezember 1981 interniert worden waren. Braunmühls Kommentar spiegelte letztlich den Unmut im Auswärtigen Amt darüber wider, dass Schmidt mit den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, welche die Gewerkschaft Solidarność in Polen erstrebte, nur wenig anzufangen wusste.
Schmidts extrem kritische Haltung zur Solidarność thematisiert natürlich auch Dominik Pick in seinem Buch Brücken nach Osten, das der Politik des fünften Bundeskanzlers gegenüber der Volksrepublik Polen gewidmet ist, aber auch die Jahre einbezieht, in denen Schmidt noch nicht an der Regierungsspitze stand. In der Einführung betont der Autor, das politische Handeln Schmidts sei mit einem biografischen Ansatz "im traditionellen Sinn" (12) nicht hinreichend zu erklären. Er wolle den "menschlichen Faktor" in den internationalen Beziehungen herausstellen, aber vor dem Hintergrund der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Polen (11 f.). Originell ist dieser Ansatz eigentlich nicht, sondern - durchaus in einem guten Sinne - geradezu klassisch: Biographische Begebenheiten werden dabei in den historischen Kontext eingebettet.
Der Verfasser hat für seine Untersuchung eine intensive Archiv- und Quellenrecherche betrieben. Er wertet systematisch die vom Institut für Zeitgeschichte herausgegebenen "Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland" und ihr Pendant, die "Polskie Dokumenty Dyplomatyczne", sowie einschlägige Bestände in mehreren deutschen und polnischen staatlichen wie nichtstaatlichen Archiven aus. Dies kommt seiner Arbeit in hohem Maße zugute.
Eindringlich kann Pick zeigen, wie stark Schmidt von seinem ersten Aufenthalt in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg im Juli 1966 geprägt wurde (17-22). Der Besuch bestärkte ihn in seiner Auffassung, die er schon vorher öffentlich vertreten hatte, dass die Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens anerkannt werden müsse. Das folgende Kapitel "Sicherheit und Ostpolitik" (23-25) vermag dagegen nicht zu überzeugen, weil Pick nicht deutlich macht, weshalb Schmidt in seiner Amtszeit als Verteidigungsminister (1969-1972) "erheblichen Einfluss" (24) auf die westdeutsche Außen- und damit auch Ostpolitik besaß. Eigentlich hatte Schmidt mit den deutsch-polnischen Angelegenheiten in dieser Zeit weniger zu tun. Das änderte sich, als er 1972 das Amt des Finanzministers übernahm. Fortan war er mit einem komplexen Bündel an Problemen befasst, das erst im Oktober 1975 in Form von bilateralen Absprachen einer Paketlösung zugeführt werden konnte. Es ging um die Ausreise von Deutschstämmigen aus Polen in die Bundesrepublik, um finanzielle Hilfen Westdeutschlands für den osteuropäischen Staat sowie um sozialversicherungsrechtliche Fragen.
Entschädigungsleistungen der Bundesrepublik an Polen lehnte Schmidt kategorisch ab, um keinen Präzedenzfall für die Wünsche anderer Warschauer-Pakt-Staaten zu schaffen. Allerdings war er zu einem finanziellen Entgegenkommen bereit, sollte es für mehr Deutschstämmige die Möglichkeit der Ausreise aus Polen geben. Nach zähen Verhandlungen konnten Schmidt und Gierek am Rande der KSZE-Gipfelkonferenz in Helsinki Anfang August 1975 einen entsprechen Kompromiss zustande bringen. Teile der bilateralen Absprachen vom Oktober 1975 waren in der Bundesrepublik ratifikationsbedürftig, was insofern eine schwierige Lage schuf, als die Oppositionsparteien CDU und CSU im Bundesrat die Mehrheit besaßen. Pick schildert all das detailliert und kenntnisreich und weist zu Recht darauf hin, dass es der FDP-Vorsitzende und Außenminister Genscher war, der einen Kompromiss mit der Union aushandelte (55). Dessen Ergebnis lässt Pick aber unerwähnt: Es konnte mit der polnischen Seite eine Offenhalte-Klausel vereinbart werden, die nicht nur die Ausreise von 125000 Menschen sicherte, wie es ursprünglich vorgesehen war, sondern in der Folgezeit mehreren hunderttausend Menschen die Übersiedlung von Polen in die Bundesrepublik ermöglichte.
Ohne Zweifel hat Helmut Schmidt die mit dem Warschauer Vertrag vom Dezember 1970 eingeleitete Versöhnung und Verständigung mit Polen nach seiner Wahl zum Bundeskanzler im Mai 1974 maßgeblich vorangetrieben. Am Ende seiner Kanzlerschaft, 1981/82, zeigten sich jedoch allgemeine Ermattungserscheinungen, die auch in der Politik gegenüber Polen durchschlugen. Schmidt verharrte zunehmend in einem Status-quo-Denken - ganz im Gegensatz zu Genscher, der in einem Gespräch mit dem amerikanischen Vizepräsidenten George Bush am 9. März 1982 in Washington zum KSZE-Prozess ausführte: "Unser offenes Fenster habe frische Luft nach Osteuropa hineingelassen. Wenn wir es schlössen, könne es sein, dass dieser Prozess nicht unterbrochen, aber eingefroren werde. Es sei immerhin bemerkenswert, dass die SU unter Gesetzen des Kalten Krieges in der DDR, Ungarn und der ČSSR militärisch interveniert habe, nicht aber unter Bedingungen der Entspannung in Polen. Das bedeute nicht, dass wir zufrieden mit der Entwicklung in Polen seien, aber der Unterschied sei erkennbar. Man müsse die Dynamik in Polen sehen." Genscher fügte hinzu: "Er sei tief überzeugt, dass die Zeit für uns arbeite." [2]
Von einer solchen Überzeugung war Schmidt weit entfernt. Gegen Ende seiner Amtszeit als Regierungschef wirkte er mutlos und kraftlos, sah nur noch politische und wirtschaftliche Krisen und hatte kein Verständnis für gesellschaftliche Veränderungen. Die Solidarność stellte für ihn, wie Pick betont, eine "ernsthafte Herausforderung" dar (105), weil sie seiner Auffassung nach die Entspannungspolitik gefährdete und eine militärische Intervention der UdSSR wahrscheinlicher machte. Es ist eine Ironie, dass Schmidt das Entstehen einer Oppositionsbewegung in Polen in gewisser Weise selbst mit angestoßen hatte: Die Kreditvergabe an Polen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre führte dort zu einer wirtschaftlichen Scheinblüte; mit ihrem Ende wuchs die Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Unter diesen Voraussetzungen konnte die Solidarność mehr und mehr Anhänger gewinnen. Schmidts ökonomischer Verstand trat damals zugunsten des politischen Willens, den Polen zu helfen, zurück. In der Tat half er ihnen - wenn auch auf ganz andere Weise, als er es beabsichtigt hatte.
Dominik Pick hat kein Meisterwerk zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen beziehungsweise zu einem ihrer Teilaspekte geschrieben; dafür ist sein Schreibstil wahrlich zu wenig mitreißend. Es handelt sich aber um eine äußerst solide Darstellung der Politik Helmut Schmidts gegenüber der Volksrepublik Polen, die auf einer breiten Quellenbasis beruht. An ihr gibt es nichts Grundsätzliches zu kritisieren. Als Einstieg in dieses interessante Thema ist das Buch bestens geeignet; es wird dem Anspruch, das politische Denken und Wirken Schmidts einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen, vollkommen gerecht.
Anmerkungen:
[1] Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1982, hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amts vom Institut für Zeitgeschichte, bearb. von Michael Ploetz / Tim Szatkowski / Judith Michel, München 2013, 634.
[2] Ebenda, 392 f.
Dominik Pick: Brücken nach Osten. Helmut Schmidt und Polen (= Studien der Helmut und Loki Schmidt-Stiftung; Bd. 7), Bremen: Edition Temmen 2011, 133 S., 41 s/w-Abb., ISBN 978-3-8378-2012-6, EUR 14,90
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.