Als Beispiel dafür, wie die weitgehend abgeschlossene Verzeichnung und Erschließung der Prozessakten des Reichskammergerichts der historischen Forschung einen neuen Quellenfundus eröffnet hat, ist die vorliegende, bereits 2006 abgeschlossene Greifswalder historische Dissertation zu nennen, die aus einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt zu den Städten Hamburg und Frankfurt vor dem Reichskammergericht hervorgegangen ist.
Quellenbasis der Untersuchung sind 1634 bzw. 1369 Prozessakten, die im Institut für Stadtgeschichte Frankfurt und im Staatsarchiv Hamburg überliefert und in den von Inge Kaltwasser 2000 und Hans-Konrad Stein-Stegemann 1993-1995 publizierten Repertorien erschlossen sind. Da "eine komplette Durchsicht" der Prozessakten "den zeitlichen Rahmen massiv erweitert, wenn nicht gar gesprengt" hätte (21), wurden neben den auf Seite 399-402 aufgelisteten 319 Frankfurter und 185 Hamburger Reichskammergerichtsakten insbesondere die Verzeichnungen der Prozessakten als Quelle genutzt.
Dem Schema der Verteilung der Reichskammergerichtsakten auf die Gliedstaaten des Deutschen Bundes entsprechend erfolgte die Aufteilung der Akten den Regeln über den gesetzlichen Gerichtsstand gemäß und unter Zugrundelegung des Wohnortes des Beklagten bzw. - bei Appellationsprozessen - des Sitzes der Vorinstanz. Dieses prozessual bedingte Verteilungskriterium hat zur Folge, dass weder alle von Frankfurter und Hamburger juristischen und natürlichen Personen geführten Reichskammergerichtsprozesse noch sachlich zusammengehörigen Verfahrenskomplexe mit gleichem Streitgegenstand bei wechselnder Parteieigenschaft - was den zeitlichen Rahmen aber erst recht gesprengt hätte - berücksichtigt werden konnten. Dass zum Vergleich gelegentlich auf thüringische Reichskammergerichtsakten rekurriert wird, mag der benutzten Literatur geschuldet sein, ist sonst aber nicht unmittelbar eingängig.
Nach der Konzeption der sozialgeschichtlich angelegten Untersuchung, die rechtshistorische Fragen nach dem angewendeten Recht und der "spezifischen Art eines juristischen Verfahrens, Feinheiten der Prozessordnung oder Auslegung bzw. Interpretation richterlicher Spruchtätigkeit" nicht behandelt und auch keine Urteile ermittelt, ist deren Schwerpunkt der "Inhalt des Verfahrens und dessen historische Dimension" (5). Demzufolge gliedert sich die Arbeit nach einer Einleitung zu Forschungszielen, Forschungsstand und Quellen in die drei Hauptkapitel "Hamburg und Frankfurt vor dem Reichskammergericht", "Handelsprozesse vor dem Reichskammergericht" und "Handwerksprozesse vor dem Reichskammergericht".
Die quantifizierende Methode, die bereits Filippo Ranieri auf die Überlieferung der Prozessakten des Reichskammergerichts angewendet hat [1], ist auch die Basis der vorliegenden Untersuchung. Dem folgend wird die Prozessüberlieferung im ersten Hauptkapitel (27-194) für Hamburg (29-100) und Frankfurt (100-172) unter den Gliederungspunkten "Instanzenzug und Appellationsprivilegien", "Inanspruchnahme", "Prozessgegenstände", "Prozessdauer", "Prozessparteien - soziale Differenzierung", "Prozessparteien - geografische Verortung", "Einzelne Prozessgegenstände", "Kriminalität", "Staatlich-hoheitliche Rechte", "Jurisdiktion", "Familienverband" und "Grund- und Bodenwirtschaft" parallel behandelt.
Aus der Fülle der Streitgegenstände werden dann in den weiteren Hauptgliederungspunkten Handelsprozesse (195-312) und Handwerksprozesse vor dem Reichskammergericht (313-347) - wiederum im direkten Vergleich zwischen Hamburg und Frankfurt - die Schwerpunkte des Prozessgeschehens in den beiden Städten in den Blick genommen, auf deren Materialfülle hier nur hingewiesen werden kann. Abgeschlossen werden diese beiden Hauptkapitel "zur besseren Veranschaulichung der gewonnenen Erkenntnisse" (292) durch Einzelfälle, nämlich jeweils einen Hamburger (292-298, 331-338) und Frankfurter (298-306, 338-344) Handels- und Handwerksprozess, die in ihren Verläufen umfassend dokumentiert und referiert werden.
Auch wenn von der Anzahl der hier zugrunde gelegten Reichskammergerichtsprozesse Hamburg und Frankfurt vergleichbar sind, so zeigt deren Auswertung doch deutliche Unterschiede, die sich sowohl aus der geografischen Lage, der "Reichsnähe", der verfassungsrechtlichen Stellung - Frankfurt war Reichs- und Krönungsstadt, während Hamburgs lange beanspruchte Reichsunmittelbarkeit erst 1618 anerkannt wurde -, den Einzugsgebieten und der Entwicklung der beiden Städte ergaben: Während sie um 1500 mit 14.000 (Hamburg) bzw. 10.000-12.000 Einwohnern (Frankfurt) von der Größe her vergleichbar waren, hatte Hamburg gegen Ende des Alten Reichs mit 115.000 Einwohnern die dreifache Größe Frankfurts erreicht. Somit hatte Frankfurt in Relation zur Einwohnerzahl ein deutlich höheres Prozessaufkommen als Hamburg, was u.a. mit der Nähe der Mainmetropole zu den Reichskammergerichtssitzen bzw. im Fall Hamburgs mit anfänglichen Blockadeversuchen des Hamburger Rats erklärt wird. Auch erhielt Hamburg erst rund 40 Jahre später als Frankfurt sein erstes Appellationsprivileg.
Erstaunlich ist das Ergebnis, dass bei beiden Städten das Reichskammergericht in seiner Funktion als Rechtsmittelinstanz dominierte, waren doch in Frankfurt 65%, in Hamburg sogar 79% aller Verfahren Appellationen. Dass trotz der Steigerung der Appellationssummen in den späteren Appellationsprivilegien steigende Einwohnerzahlen und Geldentwertung eine weitere Erhöhung der Inanspruchnahme des Reichskammergerichts als Rechtsmittel- und Kontrollinstanz zur Folge hatten, ist eine ebenso interessante Erkenntnis wie die Beobachtung, "dass der bei weitem größte Anteil der [...] anhängig gemachten Verfahren nach maximal fünf Jahren erledigt war" (352).
Die untersuchten Städte waren "zwei der wichtigsten Handelszentren im Alten Reich" (349), weshalb Schwerpunkt der Untersuchung die Auswertung der Prozesse mit Streitigkeiten aus Handel und Gewerbe ist. Für die Wirtschaft beider Metropolen, deren weitreichende Geschäftsbeziehungen als Hafenstadt bzw. Messezentrum sich auch in Reichskammergerichtsprozessen niederschlugen, stand "mit dem Reichskammergericht [...] eine Institution zur Verfügung, die vor allem Kaufleuten beider Vergleichsstädte zur Verfolgung ihrer Interessen diente und als weitere gerichtliche Instanz über die städtischen Gerichte hinaus für Rechtssicherheit im Handelsverkehr sorgte" (358). Konstatiert wird "eine massive Verrechtlichung des Geschäftslebens" (ebenda) - auch mit der negativen Folge einer massiv steigenden Zahl von Konkursen.
Der quantifizierenden Methode folgend wird das reiche Material durch 51 Tabellen und 4 Karten erschlossen und ausgewertet. Namens- und Ortsregister komplettieren das Werk.
Anmerkung:
[1] Filippo Ranieri: Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 15. Jahrhundert (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 17), 2 Bde., Köln 1985.
Robert Riemer: Frankfurt und Hamburg vor dem Reichskammergericht. Zwei Handels- und Handwerkszentren im Vergleich (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 60), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, IX + 431 S., ISBN 978-3-412-20822-6, EUR 59,90
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