sehepunkte 13 (2013), Nr. 6

Wolfgang Curilla: Der Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939-1945

Bereits vor einigen Jahren hat der ehemalige Hamburger Senator Wolfgang Curilla eine umfängliche Darstellung zur Ordnungspolizei in Weißrussland und dem Baltikum vorgelegt, die ihn zweifellos als einen der profundesten Kenner dieser zahlenmäßig bedeutenden und - wie er überzeugend hat belegen können - für den Holocaust eminent wichtigen Einheit von Himmlers Polizeiapparat ausweisen.

Der nun vorliegende Band lässt sich also als eine Art Fortsetzung auffassen, die sich mit einem nicht minder wichtigen Territorium, namentlich dem besetzten Polen und der Rolle der dort stationierten Ordnungspolizei befasst. Hinsichtlich der Frage nach der Rolle der Ordnungspolizei bei der Durchführung des Mordes an den europäischen Juden dürfte mit den beiden nun vorliegenden Bänden das mit Abstand wichtigste Gebiet nationalsozialistischer Massenverbrechen erfasst sein.

Nicht nur angesichts der Thematik als solcher, sondern auch und wichtiger noch wegen der administrativ-hierarchisch höchst unterschiedlich ausgestalteten Territorien, in die Polen faktisch aufgeteilt war (Generalgouvernement, Gebiet Białystok, Reichsgaue Danzig-Westpreußen und Wartheland, Regierungsbezirke Zichenau und Kattowitz), stellt eine Gesamtdarstellung der Ordnungspolizei für dieses Gebiet eine Herausforderung sui generis dar. Nach einer allgemeinen Einführung zur nationalsozialistischen Judenverfolgung in Polen nach dem 1. September 1939 geht der Verfasser territorial vor und gliedert seine Darstellung entlang der genannten Gebiete, wobei den Distrikten des Generalgouvernements (allerdings ohne den erst im August 1941 inkorporierten Distrikt Lemberg) der überwiegende Platz zukommt. Ein Abschnitt mit einem Quantifizierungsversuch, einem Ausblick auf den weiteren Werdegang der Polizeiangehörigen sowie zu den Motiven der Täter schließt den Band ab.

Dass das Generalgouvernement auf diese Weise nur unvollständig präsentiert wird, verweist auf eine etwas eigenwillige Festlegung des Territoriums durch den Verfasser, die cum grano salis auf die polnische Westgrenze von 1939 und die Ostgrenze von 1945 hinausläuft. Eine Abgrenzung zum im ersten Band von 2006 behandelten baltischen und weißrussischen Raum versteht sich, die Nichtberücksichtigung des Distrikts Lemberg dagegen erschließt sich dem Leser nicht.

Der Verfasser greift in seiner ausgesprochen detailreichen Darstellung der Struktur und des Einsatzes der Ordnungspolizei vor allem auf "Entscheidungen der Gerichte und Staatsanwaltschaften aus mehreren hundert Ermittlungs- und Strafverfahren" (16) zurück, und die Liste der berücksichtigen Prozessunterlagen liest sich in der Tat beeindruckend. In der Tagespresse wurde das Buch dementsprechend als "ein unverzichtbares Hilfsmittel für die Geschichtsschreibung" gelobt. [1] Hilfreich ist das Buch ganz zweifellos, und für die Akribie auch beim kleinsten Detail ist dem Verfasser die Anerkennung sicher. Dass er dafür laut dem Rezensenten der FAZ die "entsprechende, zumeist deutsche, Forschungsliteratur sowie Quelleneditionen" zuzüglich der Akten juridischer Provenienz gesichtet hat, ist zwar richtig, allerdings verbirgt sich dahinter leider auch ein sehr grundlegendes Problem.

Es ist dem Verfasser nämlich bis auf sehr wenige Ausnahmen nicht eingefallen, polnische Fachliteratur, geschweige denn polnische Archivalien in seine Forschungen mit einzubeziehen. Dass dem Autor hierfür vermutlich die nötigen Sprachkenntnisse fehlen (so fehlen auf den über 1000 Seiten sämtliche diakritische Zeichen polnischer Begriffe, Ortsnamen et cetera), reicht hier als Argument aber nicht aus. Niemand würde ernsthaft auf die Idee kommen, die deutsche Militärverwaltung in Frankreich ohne französischsprachige Quellen oder Darstellungen auf über 1000 Seiten abzuhandeln - warum aber sollte man dies für legitim halten, sobald es sich nicht um West-, sondern um Ost(mittel)europa handelt? Zumindest hätte man erwarten dürfen, dass diese Lücke in der Einleitung in geeigneter Form benannt und problematisiert wird.

Schon von daher wäre es vermutlich sinnvoller gewesen, den Band als Nachschlagewerk für die Ordnungspolizei auf der Grundlage bundesdeutscher Ermittlungsakten zu konzipieren, denn die Spezifik des Quellenmaterials schlägt sich an zahlreichen Stellen auf die Narration des Textes nieder. Dieses Manko versucht der Verfasser mit ausführlichen Schilderungen auf Grundlage der publizierten (auch hier nur deutsch beziehungsweise englischsprachigen) Forschungsliteratur zu kompensieren. Viele dieser Schilderungen - etwa zur Geschichte des Ghettos Litzmannstadt oder zum Vernichtungslager Kulmhof, um nur zwei Beispiele zu nennen - erscheinen jedoch überflüssig, weil man dies andernorts kompetenter nachlesen kann. Nicht unproblematisch ist auch, dass Curilla bei Zahlen beispielsweise von Opfern einzelner Massaker oder Ähnlichem in den Fußnoten immer eine Vielzahl der in der Literatur ab ovo reproduzierten Zahlen beziehungsweise Schätzungen angibt, ohne sich darum zu bemühen, hier eine Synthese oder wenigstens die seiner Abschätzung nach wahrscheinlichste Variante - und sei es nur die in der Forschung jüngst genannte - zu finden. Im Falle etwa des Vernichtungslagers Kulmhof die Spannbreite der seit 1945 diskutieren Opferzahlen von 150 000 bis 300 000 Menschen unvermittelt nebeneinanderzustellen, ist unverständlich, weil letztere Zahl in der Forschung bereits seit den 1960er Jahren nicht mehr ernsthaft vertreten wurde. Zudem wird dem Leser auch nicht plausibel gemacht, woher solche Divergenzen tatsächlich stammen.

Fünfzehn Jahre nach so grundlegenden Debatten über die Ordnungspolizei, wie sie von Christopher Browning [2] und Daniel J. Goldhagen [3] Mitte der 1990er Jahre angestoßen wurden, hat sich das Wissen über die Rolle der Ordnungspolizei zweifellos erheblich erweitert. Selbstverständlich bietet Curillas Band eine schier unüberschaubare Fülle an Informationen über die tiefe Verstrickung, ja integrale Teilhabe der Ordnungspolizei an den Massenverbrechen im besetzten Polen. So ambitioniert dieses Werk zweifellos auch ist - eine jahrzehntelange Forschungsleistung des Landes, mit dem man sich beschäftigt, so beiseite zu lassen, muss aus methodischen und empirischen Gründen als Sackgasse bezeichnet werden.


Anmerkungen:

[1] Michael Wildt: Grausamkeit durch Gruppendruck, in: FAZ vom 26.11.2011, S. L27.

[2] Christopher R. Browning: Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution, New York 1992.

[3] Daniel J. Goldhagen: Hitler's Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust, New York 1996.

Rezension über:

Wolfgang Curilla: Der Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939-1945, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011, 1035 S., ISBN 978-3-506-77043-1, EUR 58,00

Rezension von:
Ingo Loose
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Ingo Loose: Rezension von: Wolfgang Curilla: Der Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939-1945, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 6 [15.06.2013], URL: https://www.sehepunkte.de/2013/06/23549.html


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