Betrachtet man den Buchmarkt, so hat man seit einiger Zeit den Eindruck, dass Lehrbücher für die Wissenschaftsverlage eine äußerst lukrative Geldquelle darstellen müssen, erscheinen doch ständig neue Exemplare dieser Gattung auf dem Markt. Besonderes häufig werden diese im Taschenbuchformat und mit einer Seitenzahl von bis zu 180 Seiten herausgebracht, was wohl vor allem auf den Markt der Bachelorstudenten zielt, denen anscheinend eine längere Lektüre - zumindest zeitlich - nicht mehr zugetraut wird. Gleichzeitig aber - und dies scheint häufig das Problem zu sein - sollen diese dünnen Bändchen einen Themenbereich abdecken, der auch auf dem Doppelten der Seitenzahl nur äußerst komprimiert und mit vielen Verallgemeinerung und Lücken darzustellen wäre.
Rainer Liedtkes Thema der Industriellen Revolutionen in der Welt ist zweifellos ein solches Thema, erst recht, wenn man - wie der Autor es tut - klassisch beginnend mit Großbritannien nicht nur die Industrialisierung der west- und mitteleuropäischen Staaten und der USA im 19. Jahrhundert, sondern auch die sich später industrialisierenden nord-, süd- und osteuropäischen Staaten sowie Japan und die Schwellenländer Indien, Korea und Brasilien im 20. Jahrhundert in den Blick nimmt. Ergänzt werden diese Länderstudien in diesem Buch zudem durch Abschnitte über die Agrar-, Wissen- und Handelsrevolution sowie die demographische Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert bzw. über die sozialen Konsequenzen und das Verhältnis von Staat und Wirtschaft. Schließlich enthält der kleine Band auch noch 15 kleine Exkurse im Umfang bis einer Buchseite zu Themen wie Irlands Bevölkerungskatastrophe der 1840er Jahre, dem Bau des Gotthard-Tunnels oder der Geschichte des indischen Tata-Konzerns.
Eine zwangsläufige Folge dieser Themenfülle auf letztlich nur 184 Textseiten sind häufig sehr allgemeine stark verkürzende Aussagen, so z.B., wenn der Autor davon spricht, dass immer weniger Menschen gebraucht wurden, um ausreichend Nahrungsmittel zu produzieren (20). Da aber die Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten in vielen sich industrialisierenden Ländern des 19. Jahrhunderts weiter stieg, ist tatsächlich gemeint, dass die Arbeitsproduktivität im Agrarsektor stieg und deshalb pro erzeugter Produkteinheit weniger Arbeitsinput nötig wurde.
Zum Opfer des begrenzten Platzes fällt aber auch die Einführung selbst zentraler Begrifflichkeiten: So erläutert der Autor nicht einmal die Begriffe der Industriellen Revolution oder der Industrialisierung, die er jedoch meist synonym verwendet. Nur indirekt erschließt sich, dass Liedtke den Industrialisierungsgrad eines Landes jeweils daran misst, ob der größte Teil der Beschäftigten im sekundären, industriellen Sektor arbeitete oder nicht. Unabhängig von dem Problem, dass sich manche Staaten wie die USA oder auch Dänemark nach dieser Definition nie industrialisiert haben - was Liedtke auch anmerkt -, nutzt der Autor gleichzeitig in anderen Ausführungen einen weiteren Industrialisierungsbegriff, nach dem die Industrialisierung eben nicht nur eine umfassende Veränderung der Ökonomie und Wirtschaftsweise, sondern eine umfassende Umgestaltung aller gesellschaftlichen Bereiche umfasste. Aber dies wird vom Autor nirgendwo auch nur ansatzweise thematisiert. Weiterhin bleibt ebenfalls völlig im Unklaren, aufgrund welcher Kriterien die einzelnen Fallbeispiele und Themen ausgewählt wurden (Warum Indien, Korea und Brasilien statt China, Taiwan und Chile?). Statt den thematischen Exkursen zu einzelnen Randaspekten (was haben z.B. Standard Oils Verbindungen zur NSDAP mit der Industrialisierung der Niederlande zu tun? S. 55) wäre es daher unzweifelhaft sinnvoller gewesen, den knapp bemessenen Platz für diese wichtigen konzeptionellen Fragen - z.B. die Frage, ob man die Wachstumsentwicklung zahlreicher Schwellenländer des späten 20. Jahrhunderts überhaupt noch als eine Industrialisierung in klassischem Sinne verstehen kann - sowie die eine oder andere Forschungskontroversen und -konzepte von Rostow bis Robert C. Allen zu verwenden, auf die der Band ebenfalls keinerlei Bezug nimmt.
Regelrecht ärgerlich wird die Lektüre des Bandes schließlich aufgrund der zahlreich enthaltenen Detailfehler. Nach Liedtke betrieben Dampfmaschinen Blasebälge (statt eiserne Zylindergebläse, 32) und ihm zufolge lag die bahnbrechende Bedeutung des Puddelverfahrens in der Beseitigung von Unreinheiten des Eisens (statt darin, dass hierdurch Steinkohle als Brennstoff für die Frischeisenherstellung verwendet werden konnte, 32). Weiterhin erfolgte die Verbesserung landwirtschaftlicher Techniken erstmals in Flandern (statt den Niederlanden des 17. Jahrhunderts, 11), um nur drei Beispiele neben zahlreichen weiteren zu nennen. Noch unerfreulicher ist aber die Behauptung, dass Frankreich lange die Unternehmensrechtsform der Aktiengesellschaft nicht gekannt hätte, obwohl die "Société Anonyme" des Code de Commerce von 1807 tatsächlich das Vorbild zahlreicher kontinentaleuropäischer Kodifikationen bildete (57). In ähnlicher Weise präsentiert der Verfasser zudem von der Forschung in Zweifel gezogene Ergebnisse weiterhin als eindeutige Erkenntnisse, wenn er den Rückgang der Sterblichkeit in Großbritannien vor 1800 auf die medizinischen Fortschritte zurückführt (23) oder den Zollverein uneingeschränkt als politischen Motor der deutschen Einigung (133) darstellt.
Aufgrund all der konzeptionellen Schwächen, Verzerrungen und Verallgemeinerungen sowie der zahlreichen Fehler stellt sich letztendlich die Frage, ob der Verlag überhaupt eine Beurteilung des Manuskripts vorgenommen hat. Es bleibt daher nur zu konstatieren, dass diese mit zu vielen Mängeln behaftete Einführung Studenten keinesfalls zu empfehlen ist, vor allem, weil an besseren Lehrbüchern zum Thema wahrlich kein Mangel herrscht, auch wenn diese etwas älteren Datums sind.
Rainer Liedtke: Die Industrielle Revolution (= UTB; 3350), Stuttgart: UTB 2012, 205 S., ISBN 978-3-8252-3350-1, EUR 14,99
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