Die Erforschung von Emotionen in der Kunstrezeption hat in den vergangenen Jahren durch interdisziplinäre Projekte und Initiativen Aufwind erfahren. Im Mittelpunkt des Interesses stehen dabei zumeist Fragestellungen, die das aktuelle Kunst- und Kulturgeschehen betreffen. Behandelt werden kognitive, psychologische, medientheoretische, didaktische und wirkungsästhetische Aspekte.
Der von Elisabeth Décultot und Gerhard Lauer herausgegebene Band wendet sich dagegen der Emotionsforschung einer früheren Epoche zu. Er nimmt das 18. Jahrhundert in den Blick, das sowohl die philosophische Disziplin der Ästhetik hervorbrachte als auch als "Zeitalter der Empfindsamkeit" charakterisiert worden ist. Damit gerät eine Epoche in den Fokus, in der erstmals subjektive, sinnliche Erfahrungen von Kunst systematisch beschrieben und erkenntnistheoretisch diskutiert wurden. Diese Theorien wurden bereits im ausgehenden 17. Jahrhundert vorbereitet - durch Untersuchungen zur Psychologie der Affekte, dadurch, dass in bestimmten Positionen der französischen Kunsttheorie die sinnliche Wahrnehmung wertgeschätzt wurde, sowie dadurch, dass Normative in der Philosophie und in der Poetik in Frage gestellt wurden.
Décultots und Lauers Band versammelt zehn Beiträge einer von der DFG und der Agence Nationale de la Recherche geförderten Tagung von französischen und deutschen Literaturwissenschaftlern, Philosophen und Kunsthistorikern im Kontext des Programms "Ästhetik. Geschichte eines deutsch-französischen Ideentransfers". Die deutsch- und französischsprachigen Aufsätze befassen sich schwerpunktmäßig mit Du Bos, Bodmer und Breitinger, Baumgarten, Sulzer, Riedel, Forster, Kant, Moritz, Maaß und Friedrich Schlegel, wenden sich aber auch mehrfach der Philosophie Christian Wolffs sowie sensualistischen Theoretikern englischsprachiger Provenienz zu.
Daniel Dumouchel eröffnet die Aufsatzsammlung mit einer Interpretation von Jean-Baptiste Du Bos' Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture (1719). Du Bos' vom englischen Sensualismus geprägte Abhandlung zählt zu den Gründungsschriften der philosophischen Ästhetik und hatte, nachdem sie 1760 ins Deutsche übersetzt worden war, großen Einfluss auf deutschsprachige Poetiken und Kunsttheorien. Dumouchel betrachtet Du Bos' Abhandlung nicht nur unter der Prämisse einer frühen Wirkungsästhetik, die toucher und émouvoir als Ziel der Kunst erachtet, sondern auch als metatheoretischen Text: als Metakritik, die eine "république des spectateurs" (35) vorsieht. Die Konstituierung einer philosophischen Ästhetik beleuchten auch Stefanie Buchenau in ihrem Aufsatz über Baumgartens Begriff der aisthesis sowie Denis Thouard in seinem Text über die Wandlung des Gefühl-Begriffs bei Kant. Kants "réhabilitation du sentiment" (134) öffne schließlich das Tor zu einer pragmatischen Anthropologie, so Thouard. Dietmar Till dagegen begreift Friedrich Justus Riedels Philosophie des Geschmacks als Theorie des Übergangs, an der sich das zeitgenössische Interesse an Theorien des Sensualismus ablesen lasse. Sie liefere jedoch kein abgeschlossenes philosophisches Theoriegebäude.
Mit den Poetiken Breitingers und Bodmers befasst sich der Beitrag von Annabel Falkenhagen. In den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellt sie die "empfindliche Lust". Die Autorin ordnet die Positionen der Schweizer jedoch nicht dem Diskurs der Empfindsamkeit zu, sondern betrachtet sie vornehmlich als Theorien, die die Sinne als Mittel des Erkenntnisgewinns betonen. Breitingers Critische Dichtkunst bezeichnet Falkenhagen daher folgerichtig als "ästhetische Theorie der Dichtung" (66). Mit Kunst- und Dichtungstheorien setzen sich auch Clara Pacquet und Ulrike Zeuch auseinander. Pacquet untersucht Karl Philipp Moritz' Begriff des Gefühls, während Ulrike Zeuch Friedrich Schlegels Roman Lucinde als Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie liest. Georg Forsters Beschreibung der kurfürstlichen Gemäldegalerie in Düsseldorf nimmt Pascal Griener zum Anlass, um über Theorien der Kunsterfahrung im 18. Jahrhundert zu reflektieren.
Psychologische Aspekte stehen im Mittelpunkt der Beiträge der beiden Herausgeber. Décultot widmet sich der Frage, wie Johann Georg Sulzers seelenkundliche Untersuchungen dessen kunsttheoretische Schriften beeinflusst haben. Die Autorin zeigt, dass Sulzers Ausführungen nicht bei körperlichen Empfindungen verweilen, sondern die Einbildungskraft als innerlichen Wahrnehmungsvorgang mitberücksichtigen. Gerhard Lauer wendet sich Johann Gebhard Ehrenreich Maaß zu, der mit seinem Versuch über die Einbildungskraft von 1792 Dichter wie E.T.A. Hoffmann beeinflusste.
Auch wenn Wechselwirkungen zwischen französischen und deutschsprachigen Positionen zum Geschmacksurteil und zur Wirkungsästhetik in einzelnen Aufsätzen herausgearbeitet werden, ist dennoch kritisch anzumerken, dass der Band seinen Schwerpunkt auf deutschsprachige Theoretiker legt. Es wäre sicherlich interessant gewesen, wenn neben Du Bos weitere französische Positionen ausführlich dargestellt worden wären, etwa die Kunsttheorien von Antoine Coypel oder von Charles Batteux - zumal mit den Gründungen der Académies Royales im 17. Jahrhundert sich schon bald ein reiches, zuweilen nonkonformistisches Diskursfeld auftat, das auch im 18. Jahrhundert fruchtbar war.
Der von Décultot und Lauer herausgegebene Band zu "Kunst und Empfindung" ist sorgfältig ediert. Die Aufsätze bestechen durch kenntnisreiche und souveräne Einordnungen der historischen Quellen und enge Arbeit an den theoretischen Texten. Viele Aspekte der durch die Autoren aufgearbeiteten Positionen des 18. Jahrhunderts erscheinen erstaunlich "frisch" und bieten Anknüpfungspunkte an die heutige Emotionsforschung, sodass dieser Band nicht nur historisch Interessierten empfohlen sei.
Elisabeth Décultot / Gerhard Lauer (Hgg.): Kunst und Empfindung. Zur Genealogie einer kunsttheoretischen Fragestellung in Deutschland und Frankreich im 18. Jahrhundert (= Beihefte zum Euphorion; Heft 65), Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2012, 184 S., ISBN 978-3-8253-5890-7, EUR 39,00
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