Das vorliegende Kompendium möchte einen Beitrag leisten zur Diskussion der geschichtstheoretischen Überlegungen und historischen Forschungen Reinhart Kosellecks (1923-2006). Neben wiederabgedruckten Festreden und Nachrufen zu Ehren Reinhart Kosellecks finden sich im Band eine Auswahl "klassischer" Forschungsarbeiten und neun Originalbeiträge mit vertiefenden, historisierenden und auch kritischen Analysen zu Kosellecks empirischen wie geschichtstheoretischen Arbeiten mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Sattelzeit-These. Darüber hinaus sind dem Band ein bislang unveröffentlichtes Typoskript Kosellecks, programmatische Texte von Vertretern konkurrierender Varianten der Historischen Semantik und eine Bibliografie zu Kosellecks Gesamtwerk beigefügt. Trotz der großen Menge an älteren Texten bietet der Band dem geschichtstheoretisch interessierten Historiker und Sozialwissenschaftler einen umfassenden und weiterhin aktuellen Überblick über die zentralen Problem- und Fragestellungen der Forschung zu Kosellecks Werk.
Der erste Teil des Sammelbands ist den "Tiefenschichten [der] biografischen und intellektuellen Entwicklung" (32) Kosellecks gewidmet. Die persönlichen Erinnerungen und Würdigungen von Willibald Steinmetz, Lucian Hölscher, Ivan Nagel und Christian Meier werfen die Frage auf, inwiefern Kosellecks eigene Lebenserfahrungen, insbesondere seine Kriegsteilnahme und anschließende Gefangenschaft, die Entwicklung seines Werks beeinflussten. Alle vier Weggefährten heben die skeptische Grundhaltung Kosellecks hervor, die sich auch nach der von Steinmetz konstatierten "historiographischen Umorientierung" (61) zur Sozialgeschichte Ende der 1950er Jahre in einer im weiteren Sinne "religiösen" Grundüberzeugung äußerte, wonach in der Geschichte "immer ein unausgeschöpfter Erkenntnisrest bleibt" (Hölscher, 93).
Im zweiten Teil des Sammelbands steht die Frage nach den intellektuellen "Quellen" von Kosellecks Denken im Mittelpunkt. Den vielfach angesprochenen Einfluss Carl Schmitts auf Koselleck untersucht Reinhard Mehring eingehend im Rückgriff auf die bis dahin unveröffentlichte gemeinsame Korrespondenz. [1] Was Schmitt und Koselleck verbinde, sei der Anspruch "Begriffspolitik" zu betreiben. Anders als bei Schmitt habe diese bei Koselleck jedoch keinen offen zutage tretenden "politisch-polemischen und normativ-praktischen Sinn" (165) gehabt. Vielmehr vermutet Mehring hinter Kosellecks "anthropologische[m] Blick auf die 'Zeitschichten'", obschon sich dieser expliziter politischer Äußerungen weitgehend enthielt, eine "Art 'Modernisierungstheorie' in modernitätsskeptischer Absicht" (168). So finde sich bei Koselleck einerseits ein "konservative[r] Appell" (166), die Negativfolgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts durch historiographische Aufklärung zu kompensieren, andererseits jedoch ein "normativ-kritischer Appell", gerade die "Grenzen möglicher Kompensation von Sinnlosigkeitserfahrungen" (167) offenzulegen. Kosellecks anthropologisch begründete "Begriffspolitik" der Kompensation durch Kompensationskritik habe damit letztlich, wie Mehring auch in neueren Publikationen ausführt, dem "Liberalismus [...] einen Primat vor der Demokratie" [2] eingeräumt.
Stefan-Ludwig Hoffman widmet sich ebenfalls den anthropologischen Überlegungen Kosellecks, die er im Vergleich mit Hannah Arendts politischer Anthropologie herausarbeitet. Die zentrale Gemeinsamkeit beider Positionen bestehe darin, jene "Wiederholungsstrukturen" zu suchen, "die jedes Sprechen und jedes Handeln ermöglichen und begrenzen, ohne es zu determinieren" (203). Doch im Unterschied zu Arendt, die der "Unwiderruflichkeit des Getanen" die kompensatorische Kraft des Neubeginns durch die Sprachhandlungen des "Verzeihens" und "Versprechens" entgegenstellte, habe Koselleck den unaufhebbaren Hiatus zwischen zeitgenössischen "Primärerfahrungen" und den "Sekundärerfahrungen" ihrer späteren narrativen Verarbeitung betont, die die Erfahrungen der am Geschehen beteiligten weder kompensieren, noch ihnen voll gerecht werden können (195f.).
Der dritte Teil befasst sich mit den "Problemen und Herausforderungen der Begriffsgeschichte", wobei insbesondere die Übersetzung eines 1953 veröffentlichen programmatischen Texts des deutsch-israelischen Historikers Richard Koebner herauszuheben ist. Denn Hans Joas zufolge hat Koebner sowohl die Sattelzeit-These in weiten Teilen vorweggenommen als auch die Indikator- und Faktor-Funktion von Begriffen thematisiert (42). [3] Joas sieht in Koebner insofern eine "Herausforderung" für Kosellecks Begriffsgeschichte, als dessen historische Semantik sich nicht auf Grundbegriffe beschränke, sondern wesentlich breiter angelegt sei und somit stärker dem Contextualism der Cambridge School ähnele (43). Zu Recht ist an der vorliegenden Auswahl der "Herausforderungen" von Kosellecks Begriffsgeschichte jedoch kritisiert worden, dass die neueste, längst international geführte Diskussion über die Verknüpfbarkeit von begriffsgeschichtlicher Methode, historischer Diskursanalyse und der Intellectual History nicht angemessen repräsentiert ist. [4]
Die Sattelzeit-These steht im vierten Teil des Sammelbands zur Diskussion. Die verschiedenen Untersuchungen, in der Mehrzahl Originalbeiträge, können drei Themenfeldern zugeordnet werden: erstens Vertiefungen einzelner Aspekte der Sattelzeit-These, zweitens Revisionen und Korrekturen und schließlich grundsätzliche Zweifel an dieser Hypothese. Gabriel Motzkin widmet sich Kosellecks Beschreibung der Sattelzeit als Beginn unserer Gegenwart und fragt nach der sozio-kulturell stabilisierenden Funktion einer solchen bis ins späte 18. Jahrhundert hinein "ausgedehnten Gegenwart" (352). Koselleck rehabilitierte demnach einerseits die noch im Historismus verleugnete "Ahnung der Vergänglichkeit der Vergangenheit" (350). Andererseits stellte Kosellecks Vorstellung einer "ausgedehnten Gegenwart" kein konsequent kontingenzbewusstes Bekenntnis zu "Fluß und Kontinuität" dar, sondern vielmehr eine Neutralisierung der Vergangenheit durch Sinnzuschreibungen und somit einen "posthistorische[n] Ersatz für die Geschichtsphilosophie" (358). Helge Jordheim nimmt Motzkins These vom Zusammenhang von Sattelzeit-These und dem Topos der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auf und zeigt so, wie stark die einzelnen Themenbereiche Begriffsgeschichte, Anthropologie und Historik in Kosellecks Werk durch diesen Topos bereits seit seinem Frühwerk in einem logischen Bedingungsverhältnis zueinander stehen. Der Topos ermögliche "eine immer vorhandene, aber nicht immer genutzte Möglichkeit zur Ausmessung des extensionalen, horizontalen wie vertikalen Zeitfeldes der Sattelzeit" (456). Michael Makropoulos stellt die These auf, dass Kosellecks Historische Semantik zum einen die "Historizität der Moderne als Epoche" (482) und damit die Kontingenz derselben explizierbar mache. Darüber hinaus ermögliche die Historische Semantik jedoch auch die Historisierung und kritische Analyse von bereits vorhandenen "Selbstproblematisierungen von Modernität als Kontingenzkultur" (513). Aufgrund dieser doppelten Historisierungsleistung könne die Historische Semantik als ein "alternatives Unternehmen zur 'postmodernen' Kritik der Klassischen Moderne" (512) gelten.
Hans Joas' Frage nach den verdeckten religiösen und säkularistischen Prämissen in Kosellecks "radikal kontingenzbewußtem Geschichtsbild" eröffnet die Reihe der kritischen Untersuchungen. Obgleich Koselleck teleologische und deterministische Geschichtsphilosophien dekonstruierte, indem er ihre Historizität und ideologische Funktion offenlegte, habe er eben dieses kontingenzbewusste Verfahren der Historisierung nicht konsequent auf seine eigene, vor allem von Karl Löwith übernommene Vorstellung der Säkularisierung angewendet (334). Joas kritisiert damit wie auch Stefanie Stockhorst die "Überverallgemeinerungen", welche die zentrale Bedeutung des modernen Verzeitlichungsprozesses begründen sollen, welche zugleich aber die Permanenz religiöser Vorstellungen in der Neuzeit als auch die Pluralität der Zeitvorstellungen in der Frühen Neuzeit verdecken. Jörn Leonhard plädiert in diesem Sinne für einen "Pluralismus von Sattelzeiten als Paradigma für die Unterschiedlichkeit historischer Erfahrungsdeutungen" (425). Unzureichend differenziert sei zudem Kosellecks Zufallsbegriff, weshalb Peter Vogt für die Unterscheidung zwischen Schicksals- und Beliebigkeitszufälligem plädiert (529).
Schließlich findet sich bei Jan Marco Sawilla ausgehend von dem Nachweis, dass der Kollektivsingular Geschichte sich bereits deutlich vor dem Beginn der Sattelzeit ausgebildet hat, eine generelle Skepsis, ob die Untersuchung lexikalischen Wandels Rückschlüsse auf semantische Veränderungen erlaube (407). Vielmehr müsse eine "revidierte Semantik historischer Zeiten" stärker die "synchronischen Zentren sozialer Existenz" in den Blick nehmen, um so anhand von "diplomatischen, administrativen oder rechtlichen Schriftgut" Skopus und Taktung "temporalen Denkens" zu erfassen (422 f.).
Insgesamt zeigt der Sammelband, dass bei aller berechtigten Kritik die Fruchtbarkeit des "heuristischen Vorgriffs" [5], als der die Sattelzeit-These ursprünglich konzipiert wurde, weiterhin anhält, gerade weil darin die Historizität historiografischer Hypothesenbildung und damit das beständige Umschreiben der Geschichte stets vorausgesetzt wird. In diesem Sinne bleiben auch die im Band aufgeworfenen Fragen nach dem Historisierungspotential von Kosellecks Semantik geschichtlicher Zeiten und dem mit dieser Wissenskritik verbundenen politischen Anspruch von ungebrochener Aktualität für das Verständnis moderner Kontingenzerfahrungen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Niklas Olsen: Carl Schmitt, Reinhart Koselleck and the Foundations of History and Politics, in: History of European Ideas 37 (2011), 197-208, und ders.: History in the Plural. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck, New York 2012.
[2] Reinhard Mehring: Der Sinn der Erinnerung. Zur Geschichtsethik Reinhart Kosellecks, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 21 (2013), 41-52, hier 52.
[3] Unklar bleibt jedoch, warum dieser englische Text neu übersetzt wurde, obwohl bereits eine geringfügig erweiterte deutsche Version aus Koebners Nachlass veröffentlicht vorliegt. Vgl. Richard Koebner: Wortbedeutungsforschung und Geschichtsschreibung [1953], in: ders.: Geschichte, Geschichtsbewußtsein und Zeitwende. Vorträge und Schriften aus dem Nachlaß, Gerlingen 1990, 260-274.
[4] Vgl. Achim Saupe: Rezension zu: Hans Joas / Peter Vogt, Peter (Hgg.): Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, in: H-Soz-u-Kult, 1.3.2012, ( http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-1-145); Kari Palonen: Bielefeld oder Cambridge? Zu neueren Literatur über Werke von Reinhart Koselleck und Quentin Skinner, in: Neue Politische Literatur 56 (2011), 347-365, hier 355.
[5] Reinhart Koselleck: Einleitung, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hgg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, XIII-XXVII, hier XV.
Hans Joas / Peter Vogt (Hgg.): Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Koselleks, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2011, 590 S., ISBN 978-3-518-29527-4, EUR 24,00
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