Haim Gerber, mittlerweile emeritierter Professor des Department for Islamic Studies an der Hebrew University in Jerusalem, gehört sicherlich zu den sehr produktiven Historikern islamischer Sozial- und Rechtsgeschichte - hierunter insbesondere zur osmanischen Zeit. Dies demonstriert auch sehr anschaulich der hier vorgestellte Sammelband State and Society in the Ottoman Empire, der 2010 veröffentlicht wurde. Bei dieser Publikation handelt sich um den Nachdruck von insgesamt 15 Aufsätzen, die zwischen 1978 und 2007, also in einem Zeitraum von rund 30 Jahren, in verschiedenen fachwissenschaftlichen Periodika und Sammelbänden veröffentlicht worden sind. Diese Beiträge reihen sich ein in ein Gesamtwerk, zu dem neben diesen Aufsätzen und Abhandlungen auch wichtige Monographien gehören. Zu nennen sind insbesondere State, Society, and Law in Islam (1994) oder auch Islamic Law and Culture, 1600-1840 (1999). Der hier besprochene Sammelband enthält zwar den größeren Teil, aber lange nicht alle der Aufsätze von Gerber.
Die in State and Society in the Ottoman Empire zusammengeführten Abhandlungen folgen in ihrer Anordnung nicht der Chronologie ihres Erscheinens, sondern sind thematischen Blöcken zugeordnet. Diese Blöcke umfassen entweder bestimmte historische Zeiträume oder aber thematische Schwerpunkte. Der historische Zeitraum, der von Gerber am intensivsten untersucht wurde, ist die "frühmoderne" Periode, worunter hauptsächlich Studien zu verstehen sind, die das 17. und 18. Jahrhundert betreffen. Acht der insgesamt 15 Beiträge sind in dem ersten Block unter der Überschrift "The Classical and Early Modern Period: Law, Economy and Society" zusammengeführt. Den zweiten Block bilden die Arbeiten zum 19. Jahrhundert, die unter der Überschrift "The Nineteenth Century: Reforms and Socio-Economic Life" folgen. Den insgesamt vier Beiträgen dieses Abschnitts folgte der letzte, der die Überschrift "Ethnosymbolism in the Middle East: Identity and Early Nationalism" trägt.
Alle hier versammelten Beiträge stehen, trotz der Zuordnung zu thematischen Blöcken, im Grunde genommen jeweils für sich, das heißt es besteht kein direkter inhaltlicher Zusammenhang zwischen den einzelnen Aufsätzen - mit einer Ausnahme. Die Zuordnung zu den Kapiteln ist eher als Orientierung für die Leser gedacht, die hiermit jeweilige thematische Schwerpunkte schneller identifizieren können. Ein wenig irritierend mag auf den ersten Blick eine Eigenart der Paginierung sein, die jedoch nicht nur diesen Band, sondern die Reihe "Variorum Collected Studies Series" insgesamt betrifft, in der Einzelbeiträge von verschiedenen Fachwissenschaftlern zu einem Sammelband zusammengeführt werden: Die Seitenzahlen, die man im Inhaltsverzeichnis findet, geben nicht die tatsächlichen in dem Sammelband wieder, sondern die des Originalbeitrags in der jeweiligen Zeitschrift oder dem jeweiligen Sammelband. Dies wird ganz bewusst so gehandhabt, um eine Verwirrung bei der Zitierung aus den Beiträgen - im Original und aus dem hier vorgestellten Sammelband - zu vermeiden. Die insgesamt 15 Beiträge sind mit römischen Ziffern durchnummeriert, und diese liefern auch den Schlüssel für den 4seitigen Index am Ende der Publikation, der zu Begriffen und Personen angelegt wurde, um die systematische Suche zu erleichtern. Das Auffinden wird über die römische Ziffer und dann über die Originalseitenzahl ermöglicht.
Die Zuordnung der einzelnen Beiträge zu den genannten drei Abschnitten ist eher als Orientierungshilfe für den an bestimmten Epochen oder Fragestellungen interessierten Leser zu verstehen. Innerhalb der jeweiligen Kapitel und im gesamten Band lässt sich eine große Bandbreite an Themen und Fragestellungen feststellen, die letztlich das breit gefächerte fachliche Interesse des Autors widerspiegeln. Haim Gerber hat sich im Laufe langjähriger Forschungstätigkeit innerhalb der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und vor allem der Rechtsgeschichte mit sehr unterschiedlichen thematischen Fragen beschäftigt. Auch wenn viele seiner Untersuchungen allgemeiner sind und sich geographisch nicht zuordnen lassen (sollen), lassen sich - neben Anatolien - als einem regionalem Schwerpunkt seiner Forschungstätigkeit durchaus auch Palästina sowie die arabischen Gebiete des Nahen Ostens als weitere geographische Räume identifizieren.
Der erste Abschnitt zur frühmodernen Periode des 17. und 18. Jahrhunderts umfasst sehr unterschiedliche thematische Beiträge. Die erste Abhandlung The Waqf Institution in Early Ottoman Edirne (1983) befasst sich mit der Bedeutung der Stiftungen in der Region Edirne bzw. dem Distrikt Paşa, dessen Zentrum die Stadt war. Die Darstellung, die sich auf die Auswertung einer Quellenedition von Tayyip Gökbilgin stützt, arbeitet die sozialgeschichtliche Bedeutung der Stiftungen (vakıf) im Osmanischen Reich in der Frühmoderne heraus. Diese Bedeutung wird nicht nur an der Zahl erkennbar - in der Region Edirne waren es in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts rund 360 - sondern auch an den verschiedenen Aufgaben, die sie wahrnahmen. Stiftungen lassen sich nicht nur nach Größe des jährlichen Einkommens unterscheiden, sondern auch nach den jeweiligen Gründern. Neben Stiftungen des Sultans, die die geringere Zahl haben, dafür aber sehr stark ins Gewicht fallen, wurde der größte Teil der Stiftungen von Privatpersonen (43%) und von Angehörigen der militärischen Elite (57%) gegründet. Die Einkünfte der Stiftungen, die beispielsweise über die Verpachtung landwirtschaftlicher Nutzflächen erwirtschaftet wurden, dienten einem jeweiligen Stiftungszweck. Die größeren 'sultanischen' Stiftungen nahmen unter anderem die Aufgabe der Beköstigung der Bevölkerung wahr. So beköstigten die öffentlichen Küchen (ʿimāret) in Edirne zur genannten Zeit täglich 2.600 Personen, was in etwa der Hälfte der erwachsenen männlichen Bevölkerung entsprach.
In The Muslim law of partnerships in Ottoman court records (1981) versucht Gerber aufzuzeigen, dass das klassische islamische Partnerschaftrecht in der Wirtschaft auch noch in osmanischer Zeit Anwendung fand. Diese Schlussfolgerung zieht er hauptsächlich aus der Auswertung von Gerichtsakten der sogenannten Kadi-Gerichtshöfe des 16. und 17. Jahrhunderts. In den Gerichtsakten finden sich rund 90 Fälle zu den verschiedenen Formen der şirket, d.h. vertraglicher Partnerschaft, deren am stärksten verbreitete Formen mudaraba, mufawada und inan waren. Die vertragliche Zusammenarbeit im Wirtschaftsleben in Bursa des 17. Jahrhunderts fand, entgegen gängiger Annahmen, mehrheitlich zwischen Personen statt, die keine familiären Bande aufwiesen. Klassisches islamisches Vertragsrecht blühte, wie Gerber betont, nicht nur in der klassischen islamischen, sondern auch in der osmanischen Zeit und nahm hierbei wichtige wirtschaftliche Funktionen wahr.
In der Abhandlung The Monetary System of the Ottoman Empire (1982) geht Gerber der bis dato verbreiteten These nach, ob eine 'unvernünftige' Geldpolitik einer der Hauptgründe für den wirtschaftlichen Niedergang des Osmanischen Reiches gewesen ist. Gerber zeichnet nicht nur die Geschichte des osmanischen Münzwesens nach, dessen ältestes Exemplar - der Silber-Akçe - in das Jahr 1327 zurückreicht. Er verweist auch darauf, dass sich die Geldwirtschaft der Osmanen im Unterschied zu europäischen Staaten nicht auf die Verwendung von Silber- und Goldmünzen (Bimetallismus) stützte und im Laufe der Zeit einer Entwertung durch den sinkenden Silbergehalt der Akçe nicht entgegentrat. Aus diesem Grund wurde der 'Silberling' im Geschäftsleben späterer Zeit mehr und mehr durch Goldmünzen ersetzt. Die Antwort auf die Eingangsfrage wird von Gerber nur unzureichend beantwortet: Die unvernünftige Geldpolitik sei letztlich nur Ausdruck der tatsächlichen wirtschaftlichen Probleme gewesen. Ob sie unvernünftig war, bleibt offen.
Gerber gehört sicherlich zu den Historikern, die sich mit Gender-Fragen befassten, bevor dies en vogue war. So bildet die Frage nach der Rolle und Stellung der Frauen in verschiedenen Untersuchungen einen wichtigen Fokus seiner forscherischen Arbeit. In dem Beitrag Social and economic position of women in an Ottoman city, Bursa, 1600-1700 (1980) steht die Frage der sozialen und wirtschaftlichen Stellung der Frau sogar im Mittelpunkt. Entgegen landläufiger Klischeevorstellungen eines extrem untergeordneten und 'rechtlosen' Status der Frau - beispielsweise durch die Benachteiligung im erbrechtlichen Bereich - versucht Gerber aufzuzeigen, dass Quellenevidenz ein insgesamt anderes Bild zeichnet. Auch hierzu stützt sich Gerber auf seine Quellenstudien zu Bursa, die schon im Mittelpunkt seiner Dissertation standen. Trotz entsprechender rechtlicher Bestimmungen war die Polygamie, wie die Quellenauswertung zu Gerichtsdokumenten in Bursa des 17. Jahrhunderts zeigt, eine Randerscheinung. So hatten von 2.000 männlichen Personen, deren erbrechtliche Regelungen bei deren Tod gerichtlich zu treffen waren, lediglich 1% zwei oder mehr Ehefrauen. Die Gerichtsdokumente zeigen auch, dass Frauen sich in erbrechtlichen Fragen vor Gericht um ihren Teil stritten und oft zu ihrem Recht kamen, wenn auch in geringerem Umfang als Männer. Frauen traten nicht nur als Klägerinnen vor Gericht in Erscheinung, sondern bekamen auch 'Recht', wie Quellenevidenz belegt, sei es in erbrechtlichen wie auch in besitzrechtlichen Angelegenheiten. Gerber hat die Gerichtsdokumente auch statistisch ausgewertet und kam hierbei zu dem Ergebnis, dass bei einem Drittel der Fälle Frauen Hausbesitzer waren. Gerber macht deshalb die resümierende Einschätzung, dass der Status der Frau in Bursa des 17. Jahrhunderts relativ betrachtet hoch gewesen war.
Der anschließende Beitrag Anthropology and Family History: The Ottoman and Turkish Families (1989) ist vergleichsweise kurz und stützt sich ebenfalls auf seine Quellenstudien zu Bursa des 17. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Familienstruktur, zu der Gerber eingangs den gängigen, jedoch bereits zum Erscheinungszeitpunkt des Beitrags kritisierten Charakteristika der traditionellen muslimischen Familie als "groß (extended), patrilinear, patrilokal, patriarchal, endogam und mitunter polygam" entgegentritt. Auf Grundlage seiner statistischen Auswertung der Quellen kommt Gerber zu Ergebnissen, die diese gängigen Charakteristika in Frage stellen. So zeigen die Gerichtsdokumente, dass die durchschnittliche Familiengröße in Bursa bei 3,65 und bei 4,9 im Umland lag. Gründe für die eher niedrige Familiengröße sind sicherlich auch Faktoren wie die der niedrigeren Lebenserwartung in jener Zeit geschuldet. Auch das Stereotyp der Großfamilie, die den (Grund-)Besitz gemeinschaftlich hält, entspricht nicht dem, was osmanische Gerichtsdokumente zeigen. In ihnen ist eine klare Dominanz des Individualbesitzes der Brüder einer Familie erkennbar. Auf Grundlage seiner Dokumentenanalyse kommt Gerber deshalb zu dem Schluss, dass in den wirtschaftlich entwickelten Städten bereits in der osmanischen Zeit die 'Kernfamilie' im 'modernen' Sinne stark verbreitet war, und nicht die vermutete 'Großfamilie'.
Der Frage der Beziehungen zwischen den Muslimen und Nichtmuslimen im Wirtschaftsleben ist der Beitrag Muslims and Zimmis in Ottoman Economy and Society: Encounters, Culture and Knowledge (1999) gewidmet. Die Ausführungen Gerbers in diesem Beitrag sind auf das osmanische Kernland im 17. und 18. Jahrhundert beschränkt und versuchen, die Binnenperspektive der Akteure nachzuzeichnen. Die gängige Sichtweise einer "ethnischen Arbeitsteilung" - Muslime in den niedrigeren Berufen und Zimmis in den höheren - die den Blick von außen widerspiegeln, decken sich, wie Gerber aufzuzeigen versucht, nicht mit dem Bild, dass die Kadi-Register malen. Die Quellenanalyse zeige in höheren beruflichen Beschäftigungen zwar eine gewisse "ethnic division of labor", jedoch liege diesem mehr eine geographische denn hierarchische Spezialisierung zugrunde. Eine Dominanz der "Zimmis" im Wirtschaftsleben lasse sich in den Quellen vielleicht für Istanbul und Izmir aufzeigen, für Bursa jedoch gebe es wenig stützende Belege hierfür. Wichtig erscheint Gerber auch der Befund, dass sich beispielsweise orthodoxe Griechen in den rechtlichen Bereichen an den Kadi-Gerichtshof wandten, in denen eigentlich die autonome Justiz der orthodoxen Kirche zuständig war. Er resümiert, dass Muslime und "Zimmis" in engem Kontakt und wechselseitigem Einfluss zueinander standen und die Verwestlichung (Westernization) der modernen Türkei nicht zuletzt der besonderen Stellung der Nichtmuslime in den Kerngebieten des Osmanischen Reiches geschuldet sei.
The public sphere and civil society in the Ottoman Empire (2002) ist einer der 'jüngeren' Beiträge von Gerber und spiegelt auch den Wandel der Ansätze und Fragestellungen in der Wissenschaft wider. So untersucht Gerber osmanisches Recht als 'public sphere' und beschreibt die Institution der Stiftung (vakıf) als Beispiel hierfür. Das Rechtssystem der Osmanen, das sich vollkommen auf Scharia-Recht stützte, schuf neue Bereiche des Rechts, die es in klassischer islamischer Zeit noch gar nicht gab. Beispiele hierfür sind der Bereich des Zunftrechts und das Landrecht, bei denen es sich um Neuerungen im Recht handelte. Unter anderem die Institutionen der Stiftungen und der Gilden/Zünfte sieht Gerber als die Bereiche, in denen die osmanische Gesellschaft als autonome Kraft rechtliche Spielregeln festlegte, die von der osmanischen Regierung letztendlich nur bestätigt wurden. Der andere Blick auf institutionell-rechtliche Entwicklungen in osmanischer Zeit, wie ihn Gerber hier vorführt, ist interessant und fordert im Grunde zu weiterer Forschungstätigkeit auf, die gängige Thesen bzw. 'Bilder' zur osmanischen Geschichte hinterfragt.
Die letzte Abhandlung im ersten Themenblock ist dem Wirken eines palästinensischen Mufti des 17. Jahrhunderts gewidmet. Rigidity versus openness in late classical Islamic law (1998) ist die Analyse der Denkstrukturen des Khayr al-Din al-Ramlī (1585-1670). Die materielle Grundlage für diese exemplarische Analyse der Denkstrukturen eines islamischen Gelehrten in 'spätklassischer' Zeit ist dessen Fatwa-Sammlung. Al-Ramlīs Fatwas sind, wie sich für Gerber zeigt, ein Beleg für die "Offenheit" gegenüber einer vermuteten Rigidität. Das Konzept des Ijtihād, der Interpretation, war - entgegen gängigen Sichtweisen - lebendig. Gleichermaßen zeige das Beispiel al-Ramlīs, dass im islamischen Rechtsdenken auch andere Konzepte (istihsān, ʿurf, darūra, maslaha) nicht verschwunden, sondern lebendig waren. Gerber kommt deshalb zu der Bewertung, dass islamisches Recht auch in der spätklassischen Periode flexibel geblieben war. Man erkenne, dass es in seiner Struktur "solide und funktionsfähig" geblieben war, im zeitlichen Verlauf jedoch wandlungsfähig blieb.
Der zweite thematische Block in dem Sammelband ist Studien zur späteren osmanischen Zeit, namentlich dem 19. und auch frühen 20. Jahrhundert gewidmet. In den vier Abhandlungen dieses Themenblocks steht nicht das osmanische Kernland Anatolien, sondern Palästina und Syrien im geographischen Mittelpunkt. Der Beitrag The Ottoman administration of the Sanjak of Jerusalem, 1890-1908 (1978) ist der älteste Beitrag von Gerber in diesem Sammelband. Auf Grundlage der damals neu aufgefundenen Primärquelle der Protokolle des Verwaltungsrates (Meclis-i İdare) des Distrikts (Sancak bzw. Mutasarrıflık) wird Jerusalem dargestellt. Es handelt sich quasi um eine Studie zur Umsetzung der Tanzimatreformen auf regionaler Ebene. Der Verwaltungsrat wurde bereits zu Beginn der Tanzimatperiode in den 1840er Jahren ins Leben gerufen und war in den ersten Jahren mit juristischen Kompetenzen ausgestattet, die später jedoch eingeschränkt wurden. In der Gesamtbewertung kommt Gerber zu der Einschätzung, dass die Tanzimat-Reformen keinen Beitrag zum Überleben des osmanischen Reiches geleistet hat - eine Bewertung, die sicherlich zu diskutieren ist und von anderen Historikern durchaus anders bewertet wird.
Auch der folgende Beitrag A new look at the Tanzimat: the case of the province of Jerusalem (1986) ist, wie der Titel verrät, demselben Thema gewidmet und wird als Fortsetzung des vorher beschriebenen bezeichnet. Auch dieser Beitrag beurteilt die Wirkung der Tanzimat-Reformen eher negativ, unterstreicht jedoch, dass sie in den Bereichen Bildung, öffentliche Sicherheit und der Reform der Bürokratie einige substantielle Verbesserungen in der Provinz Jerusalem herbeigeführt hatten.
Der dritte Beitrag in diesem Abschnitt, The population of Syria and Palestine in the nineteenth century (1979), ist eine Studie zur historischen Demographie Syriens und Palästinas. Sie stützt sich ausschließlich auf veröffentlichte Quellen, hierunter europäischen Werken wie auch älteren arabischen Publikationen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Auf dieser Grundlage wird die demographische Entwicklung vom 16. bis zum 19. Jahrhundert nachgezeichnet. Neben der Gesamtbevölkerung und den Bevölkerungsdaten zu einzelnen Städten bilden Gesundheit, Epidemien und Konsum weitere thematische Aspekte des Beitrags.
Der letzte Beitrag in diesem Abschnitt, Modernization in nineteenth-century Palestine: the role of foreign trade (1982), geht der Frage nach, welche Rolle der Außenhandel bei der Modernisierung Palästinas im 19. Jahrhundert gespielt hat. Entgegen der Sichtweise vieler zionistischer Autoren, der zufolge jeglicher Fortschritt der Initiative jüdischer Immigranten zuzuschreiben war, seien, wie Gerber ausführt, haben die meisten Entwicklungen im 19. Jahrhundert unter der indigenen arabischen Bevölkerung stattgefunden. So weist er anhand von Zahlen darauf hin, dass die "Jewish economy" aufgrund des überbordenden Imports für ein Außenhandelsdefizit verantwortlich gewesen, wohingegen die "Arab economy" viel ausgeglichener war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei es aufgrund der wachsenden Nachfrage insbesondere Englands zu beachtlichen Produktions- und Exportschüben bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen gekommen. Diese seien nicht mit technologischen Neuerungen, sondern mit institutionellen Veränderungen zu erklären. Hierzu zählt er die gesetzlichen Neuerungen der osmanischen Zentralregierung, hierunter auch die Beschränkung der Machtbefugnisse der Provinzgouverneure.
Der letzte und zugleich kürzeste Themenblock im Sammelband trägt die Überschrift "Ethnosymbolism in the Middle East: Identity and Early Nationalism". In ihm sind drei der jüngsten und kürzesten Beiträge zu finden, die sich mit unterschiedlichen Themen befassen. Der Beitrag 'Palestine' and other territorial concepts in the 17th century (1998) geht den historischen Spuren "territorialen Bewusstseins" im vor-nationalen Zeitalter nach. Spuren und Indizien einer territorialen Identität bzw. eines territorialen Bewusstseins finden sich schon bei dem genannten Mufti al-Ramlī, dessen Fatwas Gerber auch zu dieser Frage ausgewertet hat. Im zweiten Beitrag dieses Abschnitts, The limits of constructedness: memory and nationalism in the Arab Middle East (2004), setzt sich Gerber mit der Rezeption und den Reaktionen in der arabischen Welt auf die Debatte um die 'Konstruiertheit' der Nation auseinander, die von Wissenschaftlern wie Anderson, Gellner und Anthony Smith angestoßen und von anderen Wissenschaftlern aufgenommen und weitergeführt wurde. In dem letzten Beitrag des Sammelbandes, der den Titel The Muslim umma and the formation of Middle Eastern nationalism (2007) trägt, setzt sich Gerber mit der These einer vermeintlichen Inkompatibilität von Islam und Nationalismus auseinander, die er für empirisch unbegründet hält. Dass der Islam innerhalb der Umma gegenüber ethnischer Differenz immer tolerant gewesen sei, versucht er anhand verschiedener, eher kurz angerissener Beispiele aufzuzeigen.
Die verschiedenen Abhandlungen in diesem Sammelband zeigen, dass Haim Gerber zu den Wissenschaftlern gehört, die sich ganz bewusst mit gängigen Sichtweisen und Hypothesen kritisch auseinandersetzen und diese auf Grundlage einer Analyse von Originaldokumenten gegebenenfalls zu korrigieren oder richtigzustellen. Der Duktus seiner wissenschaftlichen Textproduktion zeigt, dass seine Erkenntnisse das Ergebnis der eigenen forscherischen Arbeit sind, die nicht darum bemüht ist zu beweisen, dass etwas so ist oder das Gegenteil von dem richtig ist, was andere behaupten. Das wird daran erkennbar, dass er sich seinem Material, den osmanischen Originalquellen, unvoreingenommen zuwendet und nicht nach Belegen sucht, die eine bestimmte Sichtweise belegen. Für die wissenschaftliche Forschung zur osmanischen Zeit ist es sicherlich sehr hilfreich, mit Haim Gerber einen Historiker zu haben, dessen forscherischer Schwerpunkt nicht auf der spätosmanischen Periode liegt, wie dies bei vielen anderen Historikern der Fall ist. Durch seine zahlreichen Arbeiten zur vorangehenden Periode hat er Lücken in der Sozial- und Rechtsgeschichte des Osmanischen Reiches gefüllt, die in der Forschung tendenziell nachrangig erforscht wurden. Das bisher Gesagte gilt sicherlich am stärksten für seine Studien zum 16. und 17. Jahrhundert, die sich auf die Untersuchung osmanischer Quellen und Archivalien stützt. Hiervon zu unterscheiden sind seine Untersuchungen und Darstellungen zum 19. Jahrhundert, bei denen es sich eher um Sekundäranalysen und -darstellungen handelt. Für jeden, der sich mit osmanischer Rechts- und Sozialgeschichte befassen möchte, ist dieser Sammelband dennoch und insbesondere wegen der Studien zum 16./17. Jahrhundert aufgrund der Fülle der Fragestellungen und Beiträge nicht nur ein wichtiger 'Lektüreband', sondern auch ein wichtiges 'Nachschlagewerk'.
Haim Gerber: State and Society in the Ottoman Empire (= Variorum Collected Studies Series), Aldershot: Ashgate 2010, 314 S., ISBN 978-0-7546-6985-2, GBP 76,50
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