sehepunkte 14 (2014), Nr. 5

Rezension: Die Debatte um Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien

Um die Jahrtausendwende brach sich in Spanien durch die Bemühungen des Journalisten Emilio Silva, das Grab seines im Bürgerkrieg durch die Frankisten erschossenen Großvaters aufzufinden, eine neue Welle von "Erinnerungspolitik" Bahn. Großräumig begann in privater Initiative die Suche nach den Opfern der Bürgerkriegssieger, die diese anonym verscharrt hatten, oftmals unter Unkenntlichmachung der Massengräber. [1] Ungefähr zur selben Zeit begann der Richter Baltasar Garzón mit Bemühungen um eine juristische Aufarbeitung, die letztlich erfolglos blieben und ihn sein Amt kosten sollten.

Nach dem Tod Francisco Francos 1975 nahm das Land in einem breiten Konsens eine demokratische Verfassung an, doch spielte vor allem im offiziellen Diskurs die Erinnerung an den Bürgerkrieg und an die vierzig Jahre der Diktatur keine Rolle mehr. Zudem galt eine 1977 als Teil der Verhandlungen um die "transición", den "Übergang", zwischen den reformbereiten Kräften der Diktatur und den Führungen der Oppositionsparteien vereinbarte Amnestie. [2] Das hieß natürlich nicht, dass keine Beschäftigung mehr mit der Diktatur erfolgte. Im Gegenteil, die Geschichtswissenschaft, zu Lebzeiten Francos natürlich Beschränkungen unterworfen, konnte sich nun diesem Themenkreis widmen, ohne länger auf Impulse aus dem Ausland angewiesen zu sein. Das galt noch mehr für die Literatur. Es gab allerdings Grenzen, wo immer juristisch relevante Fragen tangiert waren. Die Familienangehörigen der Opfer des frankistischen Terrors hatten während der Jahre der Diktatur schweigen müssen. Dies setzte sich nach dem Tod des Diktators fort. Die Amnestie beförderte Amnesie; sie war ein "Pakt des Vergessens".

Hier führte die Initiative von Silva zu einem Bruch. Mit der Suche nach den Toten entstand nun eine breite gesellschaftliche Bewegung. Die Forderung nach Unterstützung durch den Staat kam auf, was die politischen Parteien mit Blick auf die Entscheidung von 1977 in Bedrängnis brachte. Erst im Gefolge des Regierungswechsels im Jahre 2004, der Ablösung der konservativen Partido Popular durch die Sozialisten unter José Zapatero, wurde schließlich 2007 das Ley de Memoria Histórica (Gesetz des historischen Gedächtnisses) verabschiedet [3], das zahlreiche Maßnahmen zur Anerkennung der Opfer des Bürgerkriegs und zum endgültigen Bruch mit den Symbolen der Diktatur in der Öffentlichkeit enthielt. Es legte aber, zur großen Enttäuschung der "Erinnerungsbewegung", kaum verbindliche Bestimmungen dafür fest, jedenfalls nicht die staatliche Aufgabe der Auffindung und Identifizierung, sondern überließ dies weiterhin privaten Initiativen. Staatliche Förderung für die Erinnerungsarbeit war somit von politischen Einzelentscheidungen abhängig. Mit dem Vorwand der Finanzkrise und der daraus folgenden Zwänge konnte die seit Ende 2011 amtierende konservative Regierung unter Ministerpräsident Mariano Rajoy so mit jeglicher Förderung aufhören.

Dieser Umgang mit dem "historischen Gedächtnis" hat auch international ein breites Aufsehen erregt, hatte doch Spanien lange Zeit als Modellfall und mögliches Vorbild für die friedliche Überwindung einer Diktatur gegolten. Nun werden die offenkundigen Defizite dabei wahrgenommen. Ein regelrechtes Forschungsfeld zur spanischen Erinnerungspolitik ist entstanden, mit einer ganzen Reihe von Publikationen auch in deutscher Sprache. Nach dem ersten großen Buch von Walther Bernecker und Sören Brinkmann [4] und weiteren Arbeiten - eine ganze Reihe ist auch noch im Entstehen befindlich - liegen hier zwei jüngere Veröffentlichungen zur Besprechung vor.

Die politikwissenschaftliche Dissertation von Adriaan Kühn (Universität Chemnitz, 2012), heute Vertreter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Madrid, knüpft an die von dem republikanischen Dichter Antonio Machado geprägte Metapher von den sich unversöhnlich gegenüberstehenden "zwei Spanien" an, der monarchisch-katholischen Hälfte einerseits und der aufgeklärt-fortschrittlichen andererseits. Ausgehend von der politik- wie kulturwissenschaftlichen Diskussion um das "historische Gedächtnis" entfaltet Kühn, nach einer historischen Skizze vom Bürgerkrieg bis zu den ersten Jahrzehnten der Monarchie, die Entwicklung seit den späten 1990er Jahren mit dem Aufleben der Auseinandersetzung um die Hinterlassenschaft des Frankismus. Denn gleichsam parallel zu den Bemühungen um die Identifizierung der Opfer, eingebettet in den Versuch der Rückgewinnung des gesellschaftlichen Gedächtnisses, entwickelte sich in Veröffentlichungen mit großem Verkaufserfolg auch ein neofrankistischer Diskurs, z. T. von "gewendeten" Linken vorgetragen: Zum Bürgerkrieg sei es nur gekommen, weil die Linke vorher das Land mit ihren Sozialreformen und ihrer antiklerikalen Politik polarisiert und nach der absoluten Herrschaft gestrebt habe. Francos Regime aber habe zur Modernisierung des Landes und damit zum friedlichen Wandel nach 1975 beigetragen.

Kühn diskutiert diese Entwicklung auf den vier Ebenen der Politik, der Justiz, der "zivilgesellschaftlichen" Initiativen und der wissenschaftlichen Diskussion, die er etwas übertrieben zu einem spanischen Historikerstreit aufwertet. Er konstatiert die Rückkehr zu einer Konfrontation der "beiden Spanien" über die Auseinandersetzung um die Vergangenheit und diskutiert dann verschiedene Erklärungsansätze. Er verwirft eine Ableitung aus dem Generationswandel oder aus der nun erreichten Stabilität der Demokratie und kommt zur Schlussfolgerung, die Wiederbelebung des Konflikts um die zwei Spanien habe heute für die beiden großen Parteien eine Ersatzfunktion. Da in den entscheidenden politischen und sozialen Weichenstellungen längst keine bedeutenden Meinungsunterschiede mehr bestünden, wechsle man zu gesellschaftlich-kulturellen Fragen, und da spiele die Auseinandersetzung um die Vergangenheit eine zentrale Rolle.

Kühn hat zwar diese Entwicklung sehr materialreich und informativ vor allem anhand der fast unübersehbar gewordenen Publizistik und der zahlreichen politischen Stellungnahmen nachgezeichnet. Doch seine Erklärung überzeugt nicht; die Gedächtnisbewegung ist zwischen akademischen Aufarbeitungen mit dem Frankismus einerseits und den Versuchen um juristische Bewältigung oder zur Identifizierung der Opfer andererseits für eine Einbindung in den parteipolitischen Konkurrenzkampf zu vielschichtig. Sie ist im Wesentlichen eine Initiative aus der Zivilgesellschaft heraus. Das Verhalten der Sozialisten war immer nur ambivalent, weil sie einer grundlegenden Konfrontation mit den spanischen Konservativen aus dem Weg gehen wollten. Letztlich kann man sich auch nicht vorstellen, wie zentrale Fragen der Diktaturbewältigung, wie dies dem Verfasser vorschwebt, einfach durch einen Kompromiss, durch den sich die parlamentarischen Kräfte von links und rechts gegenseitig die Absolution erteilen, gelöst werden können. Die Verweigerung der Schlüsselfragen der juristischen Aufarbeitung und insbesondere der Identifizierung der Toten wird nicht einfach in den Hintergrund gedrängt werden können, nicht nur, weil es die Gesellschaft nicht befriedigt, sondern weil dies auch hinter dem heutigen Stand der Völker- und Menschenrechtsdiskussion zurückbleibt.

"Die Krux mit der Vergangenheit ist, dass sie zwar vergangen ist und doch nicht vergehen will." So leitet der an einer Madrider Universität lehrende Germanist Georg Pichler sein Buch ein (7). Es kreist zwar um dasselbe Problem, doch seine Struktur ist deutlich verschieden und richtet sich als politisch-historisches Sachbuch natürlich auch an einen breiteren Leserkreis als eine akademische Qualifikationsschrift. Insofern wäre es ungerecht gegenüber Kühn, hier die deutlich bessere Lesbarkeit positiv hervorzuheben. In einer Mischung aus historischer Erzählung und Nachzeichnen der Debatten der letzten Jahre enthält es zudem durch eine Reihe von eingestreuten Interviews, durch Schilderungen von Ausgrabungen und durch Porträts einer Reihe von Protagonisten Elemente einer Reportage.

Pichlers Buch beginnt mit Darstellungen von Exhumierungen und lässt dazu einige ihrer Fürsprecher zu Wort kommen, allen voran Emilio Silva, und verweist dann auf die breite internationale Diskussion um das Verhältnis von Gedächtnis und Geschichte sowie ihren Stellenwert für die modernen Gesellschaften. Ausführlich werden die verschiedenen Seiten von Erinnerung in Spanien nachgezeichnet: die frankistische Version und ihre Inszenierung einschließlich ihrer "Leerstelle" (also die Repression gegenüber der Republik und ihren Verteidigern) einerseits sowie die Erfahrung des Exils und des antifrankistischen Widerstands in den Jahrzehnten der Diktatur andererseits. Vor diesem Hintergrund werden im letzten Drittel die Spezifika der "transición" im beschweigenden Umgang mit dieser Hinterlassenschaft und schließlich das Aufbrechen der Erinnerung seit Ende der 1990er Jahre nachgezeichnet. Dadurch ergibt sich ein sehr lebendiges, durch zahlreiche Fotos in der Anschaulichkeit unterstütztes Bild der Auseinandersetzungen um das "Gedächtnis", das auch für den nicht mit der spanischen Zeitgeschichte Vertrauten leicht erfassbar ist. Eine ausführliche Bibliographie und eine Übersicht über spanische Institutionen und Initiativen zu diesem Themenbereich runden das Buch ab. Pichlers Sympathien liegen dabei eindeutig auf der Seite der zivilgesellschaftlichen Aktivitäten, jedoch lässt er durchaus auch zwei Vertreter der neofrankistischen Gedächtnispolitik, den bekanntesten der geschichtsrevisionistischen Publizisten und einen Vizepräsidenten der Stiftung Francisco Franco, zu Wort kommen, wenn auch immer wieder zu deutlich ungläubigen Rückfragen nach deren starken Behauptungen veranlasst.

Zweifellos hat die Finanzkrise in Spanien die Auseinandersetzung um die Erinnerung etwas in den Hintergrund gedrängt, sei es, dass sie direkt als Vorwand dafür benutzt wurde, sei es, dass einfach angesichts der sozialen Folgen der Massenarbeitslosigkeit unmittelbare materielle Fragen Vorrang fordern. Doch dieses Aufschieben bedeutet nicht, dass das Problem dadurch gelöst ist. Dies zeigen die jüngsten Bemühungen von Verfolgten des Franco-Regimes, mit dem Mittel der internationalen Justiz gegen Argentinien vorzugehen, wo nun gegen frankistische Folterer sehr zum Leidwesen der spanischen Regierung ermittelt wird. Das zeigt außerdem die im Februar diesen Jahres geäußerte scharfe Kritik des Sonderberichterstatters für den UN-Menschenrechtsrat, Pablo de Greiff, angesichts der Weigerung der spanischen Regierung, das Schicksal der im Bürgerkrieg "Verschwundenen" aufzuklären, wobei er auch die Aufrechterhaltung des Amnestiegesetzes als eines fragwürdigen "Schlusspunktgesetzes" thematisierte.


Anmerkungen:

[1] Die eigenen Toten waren natürlich von den Frankisten spätestens nach Bürgerkriegsende identifiziert worden und dann Gegenstand eines Märtyrerkults.

[2] Dies war durchaus ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, denn damit mussten sich die ehemaligen Parteien der Republik ebenfalls nicht mehr für bestimmte Taten im Kriegsverlauf rechtfertigen, und so kam die Amnestie fast einstimmig, z. B. auch mit den Stimmen der Kommunistischen Partei, zustande.

[3] Offizielle Bezeichnung: Gesetz, durch das Rechte anerkannt und erweitert werden und Maßnahmen zugunsten derjenigen ergriffen werden, die Verfolgung oder Gewalt während des Bürgerkriegs und der Diktatur erlitten.

[4] Walther L. Bernecker / Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerungen: der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936-2006, Nettersheim 2006. Inzwischen liegt dieses Buch in einer fünften, erweiterten und überarbeiteten Auflage (Nettersheim 2011) vor und wurde ausweislich des leicht abgeänderten Titels bis zum Jahre 2010 fortgeschrieben. Von einem der Verfasser wurde dann noch eine Spezialuntersuchung vorgelegt: Sören Brinkmann: Katalonien und der Spanische Bürgerkrieg: Geschichte und Erinnerung, Berlin 2007.

Rezension über:

Adriaan Kühn: Kampf um die Vergangenheit als Kampf um die Gegenwart. Die Wiederkehr der "zwei Spanien" (= Extremismus und Demokratie; Bd. 24), Baden-Baden: NOMOS 2012, 347 S., ISBN 978-3-8329-7852-5, EUR 54,00

Georg Pichler: Gegenwart der Vergangenheit . Die Kontroverse um Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien, Zürich: Rotpunktverlag 2013, 333 S., ISBN 978-3-85869-476-8, EUR 29,50

Rezension von:
Reiner Tosstorff
Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Empfohlene Zitierweise:
Reiner Tosstorff: Die Debatte um Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien (Rezension), in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 5 [15.05.2014], URL: https://www.sehepunkte.de/2014/05/23975.html


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