Vorliegender Sammelband vereint die Beiträge einer 2010 in Heidelberg durchgeführten Tagung, auf der sich Historiker aus Deutschland, Griechenland, Großbritannien, Italien und Norwegen mit dem Thema der 'cultural hybridity' in den normannischen Siedlungsgebieten des Mittelalters beschäftigt haben. Im Zentrum stand Süditalien, das als herausragendes Beispiel für eine kulturelle Vermischung im Mittelalter fungierte, doch auch andere Beispiele wie die Normandie, England, Irland und sogar Russland wurden in die Betrachtungen miteinbezogen. Das Buch kann aus zwei verschiedenen Blickwinkeln heraus betrachtet werden: einerseits bietet es eine lange Reihe von konzeptuellen Theorien und Schlussfolgerungen, anderseits findet man aber auch hochinteressante Beiträge zu konkreten Themen oder Gebieten.
Der Band beginnt mit einem Beitrag Hubert Houbens, der sich dem sizilisch-normannischen Königshofs widmet - einem Königshof, der als ein "dritter Raum" und Treffpunkt hybrider Kulturen dargestellt wird. Als interessante Beispiele werden von ihm u. a. die dreisprachigen Inschriften aus Sizilien und die Karrieren von Männern griechischen und arabischen Ursprungs angeführt. Graham A. Loud stellt die vermeintlich einfach zu beantwortende Frage, wie "normannisch" das normannische Italien eigentlich war? Der Blick auf die narrativen Quellen (z.B. das Werk des sogenannten Hugo Falcandus) und ein Vergleich mit der Geschichte anderer Bevölkerungsgruppen wie der Langobarden fördert hier einiges Interessante zu Tage. Etwa 2/3 - 3/4 der Eroberer Süditaliens kamen tatsächlich aus der Normandie: allerdings steckten die Institutionen des Herzogtums Normandie zum Zeitpunkt der Eroberung Süditaliens noch in den Kinderschuhen. Ab ca. 1130 findet sich der Begriff Normannus nur noch selten, so dass davon auszugehen ist, dass die Normannen bzw. die Hauteville zu diesem Zeitpunkt bereits ihr "Normannentum" zugunsten einer Verbindung ihrer eigenen Tradition mit dem lokalen Kulturerbe aufgegeben hatten. Vera von Falkenhausen betrachtet die Rolle der Griechen und deren Traditionen innerhalb der normannischen Verwaltung. Die Normannen waren keineswegs Nachahmer byzantinisch-kaiserlicher Verwaltungstraditionen und die Griechen blieben ebenso wie die Arabern außerhalb der süditalienischen Feudalgesellschaft - allenfalls ließe sich behaupten, dass griechisches Know-how für die Gründung des normannischen Staates essentiell gewesen sei. Die Darstellung königlicher Autorität war freilich auf griechischen Beispielen aufgebaut. Drei oder vier Generationen nach der Gründung des Königreichs Sizilien und endgültig nach 1204, verlor das griechische Erbe aber jede Bedeutung. Julia Becker urteilt in ihrem Beitrag, dass sich die Geschichte der Kanzlei und des Urkundenwesens Rogers I. und Rogers II. viel wenig 'linear' und logisch als erwartet präsentiert: einerseits haben der Graf und der König die normannischen diplomatischen Traditionen noch nicht ganz verlassen, so dass sich ein gewisse Einfluss der Kanzlei des Herzogtums Normandie weiterhin beobachten lässt, anderseits gab es seit 1130 eine Wiederbelebung arabischer Praktiken. Tatsächlich hat Roger II. wohl versucht, durch interkulturelle Interaktion alle Einwohner seines 'multikulturellen' Reiches zu erreichen.
Corinna Bottiglieri führt mit einer Untersuchung über lokale Heilige Süditaliens wie den Hl. Secundinus in Troia, den Hl. Menas in Caiazzo oder Heilige, deren Reliquien durch eine Translatio übertragen wurden, wie den Hl. Eleutherus in Troia oder die Hl. Agatha in Catania, ins Gebiet der Hagiographie und betont die politische Bedeutung der Heiligenverehrung. Eleni Tounta richtet den Blick auf die normannische Geschichtsschreibung in Süditalien, in der - im Gegensatz zur Hagiographie - nicht lokale Traditionen, sondern das normannische Erbe überwog und stellt fest, dass die Identität der normannischen Eroberer im Mezzogiorno sich rund um die Familie der Hauteville konstituierte. Stefan Burkhardt erforscht den Einfluss der westlichen Kaisertradition auf die Machtdarstellung der normannischen Könige Siziliens, gut sichtbar am Beispiel Rogers I. bzw. im sizilischen Krönungszeremoniell. Gleichzeitig wird eine enge Beziehung zwischen den 'Normannen' Süditaliens und Frankreich beobachtet, vielleicht weil die Herrscher Siziliens sich mehr als 'Franzosen' denn als Wikinger fühlten. Thomas Foerster bietet eine neue Theorie über den sogenannten furor theutonicus Heinrichs VI. während der Eroberung des Königreichs Sizilien: für Foerster entspringt die Grausamkeit des Kaisers nicht importierter, sondern lokaler Tradition, d.h. die Deutschen hätten Terror und Gewalt von süditalienischen Herrschern übernommen. Diese sicherlich attraktive Theorie wird freilich nicht ausreichend durch Quellenbelege gestützt: man hätte hier sehr viel mehr Beispiele für die Grausamkeit der Normannen erwartet. Francesco Panarelli führt in das hochinteressante Forschungsgebiet der Ethnogenese und richtet dabei den Blick auf das Werk des süditalienischen Geschichtsschreibers Wilhelm von Apulien, in dem Bestrebungen erkennbar werden, den Zusammenhalt der Bevölkerung zu betonen. Sigbjørn Sønnesyn revidiert die modernen Konzepte der Ethnogenese, diskutiert das Konzept der Ethnopoiesis und stellt den Prozess der Konstituierung eines 'Volkes' durch Literatur dar.
Benjamin Pohl behandelt die Identitäten und ihre Entstehung in England und in der Normandie anhand narrativer Quellen wie De Expugnatione Lyxbonensi. Amy Mulligan richtet den Blick auf Irland, u.a. mit Beispielen des von Giraldus Cambrensis geprägten Begriffs eines "normannischen Irlands." Schließlich fehlt auch das Beispiel Russland in diesem Band nicht: Thorir Jonsson Hraundal untersucht Integrationsprozesse, durch die skandinavische Herrscher Russlands sich zwar stärker in der lokalen Gesellschaft verankern konnten, dabei jedoch ihre eigenen Traditionen aufgaben.
Sowohl die im Buch vorgestellten Beispiele als auch die Einführung verweisen auf eine Forschungsmethodik, die sich stark von den 'transcultural studies' beeinflusst zeigt und mit moderner Begrifflichkeit wie 'Nation', 'Tradition', 'Erbe', 'Ethnizität' oder 'Identität' operiert. Diese 'transcultural studies' sind zusammen mit anderen interdisziplinären Forschungsbereichen wie z.B. den 'colonial studies' zu betrachten, die Arbeiten zur neueren und neuesten Geschichte bereits seit längerer Zeit befruchten. Die Verwendung dieser Methodik im Bereich der Mittelalterlichen Geschichte ist gerechtfertigt, solange man nicht Opfer eines übermäßigen Theoretisierens wird und die Grundmethodik der Mediävistik nicht vergisst. Besonders fruchtbare Anregungen gehen von den 'transcultural studies' auf dem Gebiet der Ethnogenese aus - dies wird in vorliegendem Band eindrücklich unter Beweis gestellt. Dieser Prozess wurde in Süditalien jedoch lediglich "halb" durchgeführt, gab es doch unter den normannischen Königen die Vorstellung von Kohäsionskräften, durch die eine führende Dynastie unter Preisgabe eigener Traditionen an die Bevölkerung gebunden wurde. Man passte sich an die lokale Gesellschaft an.
Der Sammelband unterstreicht zu Recht die Künstlichkeit des Begriffs 'Normannen' und erinnert daran, dass es im Laufe des 12. Jahrhunderts wichtige kulturelle Entwicklungen und Kurswechsel, z.B. in Richtung einer Latinisierung Süditaliens, gab. Diese Ergebnisse sind nicht wirklich überraschend oder gar revolutionär - und doch eröffnet der Band anhand einer Reihe überzeugender Einzelstudien gute Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Regionen, Kulturen und Epochen.
Stefan Burkhardt / Thomas Foerster (eds.): Norman Tradition and Transcultural Heritage. Exchange of cultures in the 'Norman' peripheries of Medieval Europe , Aldershot: Ashgate 2013, VI + 305 S., ISBN 978-1-4094-6330-6, GBP 75,00
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