Das gängige Bild vom Zerfall der bundesdeutschen Studentenbewegung nach 1968 ist nur dann richtig, wenn man, wie dies viele Veteranen der ersten Stunde tun, auf die Organisationsgeschichte des bis dahin marktführenden Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) fixiert ist. Tatsächlich brachten die 1970er Jahre in der Bundesrepublik aber nicht nur eine Vervielfachung gesellschaftskritischer und revolutionärer Organisationen, sondern auch eine rasante Ausweitung des von ihnen erfassten Personenkreises. Mit anderen Worten: Das Feld differenzierte sich aus und vergrößerte sich gleichzeitig. Dem westlichen Teilstaat Deutschlands war ein revolutionäres Potenzial erwachsen, das zwar nicht ausreichte, um das System zu gefährden, das aber stark genug war, das politische und kulturelle Leben des Landes nachhaltig zu prägen.
Mit diesem breiten gesellschaftlichen Aufbruch ging eine in der politischen Linken grassierende Selbstermächtigung zur Gewalt einher, die sich im Terror der "Roten Armee Fraktion" (RAF) ebenso niederschlug wie in bürgerkriegsartigen Demonstrationen. Bei vielen Akteuren überstieg die phantasierte Gewalt sogar noch beträchtlich die von ihnen tatsächlich ausgeübte. Zu seiner Bereitschaft, selbst schlimmste Menschenrechtsverletzungen als Mittel zur Fortsetzung revolutionärer Politik gutzuheißen, stellte z. B. Joschka Fischer rückblickend fest: "Ich erinnere mich an eine Diskussion [...], wo ich der entschiedene Verfechter des revolutionären Terrors war; da ging es um das 'Darmwickeln': die Vietcong hatten irgendeinem Dorfobersten den Bauch aufgeschlitzt, die Därme rausgerissen und da hängen lassen [...]. Da gab es also erbitterten Streit über das Prinzip des revolutionären Terrors, mit einer humanistischen Fraktion, die sagte, das kann man nicht machen, wenn man mit diesen Zielen und Vorstellungen kämpft, während die andere, mehr politische Seite, zu der ich gehörte, gesagt hat, ja, das ist zwar unmenschlich, aber wenn's der Sache dient, dann muß das wohl so sein." [1]
Rückblickend erscheinen derlei Zitate befremdlich. Ähnlich verhält es sich mit der hermetischen Sprache der zeitgenössischen Pamphlete, deren geschraubte marxistische Analysen den nachgewachsenen Generationen kaum mehr verständlich sind. Mitunter scheinen selbst die Zeitgenossen mit einem gewissen Befremden vor der eigenen Lebensgeschichte zu stehen. So vermochte Gerd Koenen, der mit seinem Buch "Das rote Jahrzehnt" [2] den linken Lebenswelten von 1967 bis 1977 einen griffigen Titel gegeben hat, die eigene Funktionärstätigkeit im "Kommunistischen Bund Westdeutschland" (KBW) nur verschlüsselt darzustellen, so dass für den Außenstehenden das "Wer ist Wer?" kaum nachvollziehbar ist.
Neben dem Umstand, dass die Erforschung dieser Zeit noch primär in den Händen von Veteranen ruht, kommt für die Geschichtsschreibung erschwerend hinzu, dass sich mit der zeitgeschichtlichen Bewertung bis in die jüngste Zeit hinein Macht- und Personalfragen verbanden. Die 2001 entbrannte Diskussion um ein Foto, das Joschka Fischer als Gewalttäter in einer Frankfurter Straßenschlacht zeigt, warf ein bezeichnendes Schlaglicht auf den Zusammenhang von Geschichtspolitik und Gegenwartsinteressen. So verteidigte Wolfgang Kraushaar, einer der profiliertesten Kenner jener Jahre, den in Bedrängnis geratenen Bundesminister aus eher machtpolitischen Erwägungen, indem er Fischer zu einem Symbol der "Aussöhnung zwischen den Generationen, zwischen Staat und Bewegung sowie der gesellschaftlichen Lager und Strömungen untereinander" stilisierte. [3] Eine solche, fast schon hagiographische Deutung dürfte aber sowohl den gewieften Machtpolitiker als auch den damaligen Gewaltakteur Fischer in seiner Persönlichkeit verfehlen.
Mit Gunnar Hinck hat nun ein Autor ein Buch zur bundesdeutschen Linken in den 1970er Jahren verfasst, der als 1973 Geborener nicht mehr zu den Zeitzeugen zählt und sich auch nicht zu den kindlichen Opfern der vielfältigen Grenzüberschreitungen jener Jahre rechnet. Dennoch ist auch Hincks Arbeit nicht frei von persönlicher politischer Betroffenheit. In seinem Fall ist es die Enttäuschung darüber, dass die von 1998 bis 2005 amtierende rot-grüne Regierung mit ihrem hohen Anteil an ehemals dogmatischen Marxisten "die Grundlagen der Sozial- und Wirtschaftspolitik am stärksten in Richtung des Marktprinzips verschoben hat" (417). Diese Positionierung Hincks, die sich in der Bewertung verschiedener Akteure niederschlägt, tut der Qualität seiner Arbeit allerdings kaum Abbruch. Dies liegt daran, dass Hinck mit großer Neugier sehr breit recherchiert hat. Neben umfänglichen Zeitzeugengesprächen wertete er die zeitgenössische Publizistik aus und arbeitete in den einschlägigen Archiven, darunter die Stasi-Unterlagenbehörde und das "APO-Archiv der Freien Universität" in Berlin.
Eine weitere Stärke von Hincks Arbeit liegt darin, dass er nicht den Selbststilisierungen der Generation auf den Leim geht, sondern unerschrocken die richtigen Fragen stellt. Während die "Linksradikalen von einst [...] psychologische Erklärungsmuster in der Regel von sich" weisen (97), stellt Hinck die Biographien der wichtigsten Akteure nebeneinander und findet darin regelmäßig jene Elemente von Vaterlosigkeit und zerrütteten Familienstrukturen, die neuere kriminologische Untersuchungen auch bei vielen Links- und Rechtsextremisten festgestellt haben. Dies kann eigentlich auch nicht verwundern, da die 68er in der Unbehaustheit der Nachkriegszeit aufwuchsen, teilweise den Krieg als Kinder noch erlebt hatten und zu einem nicht geringen Prozentsatz auch über die Erfahrung der Vertreibung verfügten. Hinzu kamen bei den Kindern von nationalsozialistischen Funktionären die Erfahrung der Deklassierung und die völlige Entwertung der elterlichen Weltbilder. Überzeugend weist Hinck darauf hin, dass die erste Welle der 68er altersmäßig der bildungsbürgerliche Flügel der Generation der Halbstarken war.
Hincks kollektivbiographischer Ansatz hat den Vorteil, dass die wichtigsten Akteure immer wieder an zentralen Wendepunkten ins Blickfeld geraten. Mit Hilfe des Registers werden so viele Lebenswege einigermaßen vollständig nachvollziehbar. Dies gilt auch für den Autor Götz Aly, an dem sich Hinck allerdings etwas stark abarbeitet.
Insgesamt bleibt Hinck aber doch recht fair. Dies zeigt sich auch an seinem Umgang mit den deutschen Maoisten und ihrem Eintreten für die Massenmörder um Pol Pot in Kambodscha. Hinck zeichnet hier sehr skrupulös nach, was man zum jeweiligen Zeitpunkt über die Massenverbrechen von Mao Zedong und den Roten Khmer hätte wissen können. Dabei kann er zeigen, dass sich die bundesdeutsche Mao-Apologetik keineswegs auf Randgruppen beschränkte, sondern dass auch "Der Spiegel" in den Jahren 1966 bis 1968 "in einem anerkennenden, respektvollen Ton" über Maos China berichtete (304). Dies wird ergänzt durch Interviewpassagen mit ehemaligen Akteuren, die zum Teil sehr kritisch ihre damaligen Wahrnehmungsmuster reflektieren. Auch hier zeigt sich die Stärke von Hincks biographischem Ansatz: Indem er die maoistischen Weltbilder seiner Protagonisten mit ihren unverarbeiteten Kriegstraumata und ererbten Feindbildern in Zusammenhang setzt, liefert er schlüssige Erklärungsansätze für viele Entwicklungen in der westdeutschen Linken.
Mit seinem Buch leistet Hinck einen wichtigen Beitrag zur Historisierung eines nach wie vor kontroversen Kapitels deutscher Nachkriegsgeschichte. Es ist zu hoffen, dass seine Ansätze und Einsichten weitere Forschungen beflügeln.
Anmerkungen:
[1] Daniel Cohn-Bendit / Joschka Fischer / Rupert von Plottnitz / Reimut Reiche / Dietrich Wetzel: Kopfschrott oder Gefühlsheu? Eine Diskussion über Internationalismus, in: Kursbuch Nr. 57 vom Oktober 1979, 199-222, hier 207.
[2] Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977, Köln 2001.
[3] Wolfgang Kraushaar: Fischer in Frankfurt. Karriere eines Außenseiters, Hamburg 2001, 35.
Gunnar Hinck: Wir waren wie Maschinen. Die bundesdeutsche Linke der siebziger Jahre, Berlin: Rotbuch 2012, 464 S., ISBN 978-3-86789-150-9, EUR 19,95
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