sehepunkte 14 (2014), Nr. 9

Renate Hürtgen: Ausreise per Antrag: Der lange Weg nach drüben

Die Antragsteller auf Ausreise "haben wie keine andere gesellschaftliche Gruppe das Selbstverständnis des Staates infrage gestellt, dessen Existenz an die geschlossenen Grenzen gebunden war", beschließt Renate Hürtgen ihr Buch: "Ausreise per Antrag: Der lange Weg nach drüben." Diese richtige Gewichtung allein ist Anlass genug, die Rolle dieser Außenseiter in der DDR weiter zu erforschen.

Hürtgen nimmt zudem einen neuen Blickwinkel ein, indem sie sich in ihrer Mikrostudie darauf konzentriert, wie die Betroffenen "Herrschaft und Alltag in der DDR-Provinz" erlebten. Sie richtet ihr Forschungsvorhaben auf die Kleinstadt Halberstadt im damaligen Bezirk Magdeburg. Sie konnte nicht nur die Unterlagen der örtlichen Abteilung für Innere Angelegenheiten über 860 Antragsteller einsehen, sondern auch viele der 65 "Operativen Personenkontrollen" und "Vorgänge", die die Geheimpolizei über ausreisewillige Halberstädter angelegt hatte. Damit verfügt sie über eine Fallmenge, die zwar nicht repräsentative Aussagen, wohl aber Rückschlüsse über die Bandbreite der Ausreiseschicksale ermöglicht. Zugleich führte sie persönliche Interviews mit Betroffenen. Mit diesem Material kann Hürtgen aus Einzelfällen ein dichtes Bild der sozialen Herkunft und Antragsmotive sowie der auf die Antragstellung folgenden Lebensumstände, Sozialbeziehungen, Durchsetzungsstrategien und Repressionsmaßnahmen des MfS zeichnen, das so bisher fehlte.

Dabei ist gerade die Besonderheit der hier geschilderten Provinz faszinierend: Die schillernden Künstler, Pastoren und Friedensaktivisten spielten in der Halberstädter Ausreiseszene ebenso wenig eine Rolle, wie die arrivierten Chefärzte und Akademiker. Es waren Kellner, Tiefbauarbeiter und Pflegerinnen, die die Stasi ins Visier nahm. Hürtgen zeigt, dass ihre Halberstädter Antragsteller mit ihrem Ausreisewunsch kein Distinktionsbewusstsein verbanden. Sie wollten sich nicht von ihren angepassten Mitmenschen separieren. Vielmehr versuchten sie, ihren Antrag als Privatangelegenheit eher zu vertuschen und unauffällig weiterzuleben. Durch die persönlichen Geschichten eines in der Jugend rebellischen und deshalb im beruflichen Fortkommen permanent behinderten Familienvaters oder einer Frau mit unstillbarer Sehnsucht nach ihrer ausgereisten Tochter kann Hürtgen ihre Fälle zudem überzeugend von der beliebten dichotomen Unterscheidung in politische und Wirtschaftsflüchtlinge abgrenzen.

Ein besonderes Verdienst der Arbeit liegt in der Schilderung dieser sozialen Alltagsbeziehungen und ihrer Beeinträchtigung im Zuge der Antragstellung. Hürtgen zeigt beispielhaft, wie die SED über den Schuldirektor, den Arbeitgeber oder den Sportverein Machtverhältnisse im zwischenmenschlichen Bereich herstellte. Diese griffen einerseits viel tiefer in die Sozialbeziehungen ein als die IM-Spitzel. Andererseits waren sie aber auch nur begrenzt kontrollierbar, wie z.B. der mitfühlende Behördenmitarbeiter, der die Ausreisegenehmigung bei den Antragstellern persönlich vorbeibrachte. Eindringlich beschreibt Hürtgen, wie verstört die Ausreisewilligen reagierten, wenn ihre Mitmenschen plötzlich die Regeln des höflichen Umgangs missachteten oder die eigenen Kinder als Spielkameraden unerwünscht waren.

Die Autorin veranschaulicht die Vielseitigkeit sozialer Reaktionen auf Ausreiseanträge. Das macht ihre auf einzelnen Erinnerungen fußende These aber geradezu haltlos, die Behörden hätten ein "Schweigegebot" verhängt, wonach die Antragsteller "mit niemandem darüber sprechen sollen" (125). Das wäre unvereinbar gewesen mit den "Aussprachen" und "Kollektivgesprächen", zu denen diese regelmäßig vorgeladen wurden, "gerade so, als ließe sich der zunehmende Strom von Antragstellungen mittels guter ideologischer Arbeit eindämmen" (219). Was Hürtgen ungläubig kommentiert, war tatsächlich die zentrale Strategie der "Zurückdrängung".

Auch im Hinblick auf die 'operativen Bearbeitung' der Antragsteller durch die Stasi eröffnet die Mikrostudie neue Perspektiven. Die IM-Bespitzelung in Halberstadt ist dadurch charakterisiert, dass fast zwei Drittel der eingesetzten IM in Doppelfunktion auch Funktionäre waren, die mit den Antragstellern ohnehin auf professioneller Ebene interagierten. Für die meisten OV/OPK (Operative Vorgänge/Operative Personenkontrollen) fand das MfS keinen einzigen persönlich vertrauten IM.

Hürtgen legt dar, dass den MfS-Kreisdienststellen ansonsten auch nach Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte keinerlei rechtliche oder moralische Grenzen gesetzt waren. Entscheidungen über Strafverfolgung, Verfahrenseinstellung oder Übersiedlung wurden häufig unvermittelt von oben verordnet. Mehrjährige Gefängnisstrafen wegen Meinungsäußerungen auf dem Amt oder in privaten Briefen, zerstörte Ehen und Freundschaften dokumentiert die Autorin bis zum Mauerfall.

Schwächen zeigt die Studie dann, wenn sie die Erkenntnisse der Mikroebene an Forschungsdebatten anschließt. Die anspruchsvolle Kontroverse darüber, ob Ausreiser nun zur DDR-Opposition zu zählen sind oder nicht, entscheidet sie kurz und knapp: Laut Hürtgen "unterschieden sich die Antragsteller aus dem Kreis Halberstadt nicht von denen in anderen Kreisen oder Städten des Landes: Sie waren zu keinem Zeitpunkt zur Opposition zu rechnen" (319). Dabei liefern die von ihr aufgedeckten Sachverhalte der Gegenposition ebenso Argumente, wonach der Staat die Ausreisewilligen zu oppositionellem Verhalten zwang. Zudem verallgemeinert die Autorin die spezifische Provinzialität der Antragsteller, der Mehrheitsgesellschaft, der Kirchen- und der Staatsorgane obwohl zwischen diesen Instanzen etwa in Ost-Berlin, Leipzig oder Jena völlig andere Konstellationen existierten. Ihre Behauptung, "zu einer Allianz von Antragstellern und Opposition sollte es jedoch [...] weder in Halberstadt noch anderswo in der DDR kommen" (319), wurde in anderen Studien widerlegt. [1]

Gleichermaßen ist auch Hürtgens Auseinandersetzung mit Gehrmanns [2] These der Migranten-Netzwerke durch die speziellen Verhältnisse von Halberstadt verzerrt, in denen offenbar sehr wenig Solidarisierung unter Antragstellern stattfand. Diese relativ kleine Datenbasis gegen die zahlreichen von Gehrmann und Anderen beschriebenen DDR-weiten Netzwerke oder gar die Massenzusammenkünfte von Antragstellern in Berlin ins Feld zu führen, ist problematisch.

Schließlich beschreibt Hürtgen einige Fälle, bei denen der Häftlingsfreikauf durch die Bundesrepublik nicht nur vollzogen, sondern offenbar bereits beim Strafurteil eingeplant wurde. Damit versucht sie, Wölberns [3] These zu belegen, dass "nicht mehr die politischen Verurteilungen Grund für den Freikauf, sondern der Freikauf Grund für politische Verurteilungen" gewesen sei (258). Dabei ist ihre Studie eher ein Indiz für das Primat politischer Unterwerfung, denn die große Mehrzahl ihrer Fallbeispiele verbüßten ihre Haft ohne Freikauf.

In der Gesamtbetrachtung fördert Hürtgens Mikroperspektive überraschende Besonderheiten und Details zutage. Das Bild der Ausreisebewegung aus der DDR wird dadurch nicht grundlegend korrigiert, sondern differenzierter und lebendiger.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Uwe Schwabe / Rainer Eckert (Hgg.): Von Deutschland Ost nach Deutschland West. Oppositionelle oder Verräter? Leipzig 2003.

[2] Vgl. Manfred Gehrmann: Die Überwindung des "Eisernen Vorhangs". Die Abwanderung aus der DDR in die BRD und nach West-Berlin als innerdeutsches Migranten-Netzwerk, Berlin 2009.

[3] Vgl. Jan Philipp Wölbern: Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63-1989. Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, Göttingen 2014.

Rezension über:

Renate Hürtgen: Ausreise per Antrag: Der lange Weg nach drüben. Eine Studie über Herrschaft und Alltag in der DDR-Provinz (= Analysen und Dokumente; Bd. 36), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 339 S., ISBN 978-3-525-35078-2, EUR 24,99

Rezension von:
Fabian Klabunde
Hamburg
Empfohlene Zitierweise:
Fabian Klabunde: Rezension von: Renate Hürtgen: Ausreise per Antrag: Der lange Weg nach drüben. Eine Studie über Herrschaft und Alltag in der DDR-Provinz, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 9 [15.09.2014], URL: https://www.sehepunkte.de/2014/09/25080.html


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