sehepunkte 14 (2014), Nr. 9

Konrad Hirschler: The written word in the medieval Arabic lands

Vor langer Zeit hat es zwischen Ulrich Haarmann und Bernd Radtke einmal einen Streit darüber gegeben, ob es im Laufe der Mamlukenzeit zu einer Literarisierung der Geschichtsschreibung gekommen sei. [1] Ulrich Haarmann ging unter anderem davon aus, dass eine neue Gruppe von Autoren aus den unteren Schichten der Gesellschaft anfing, für eine neue Leserschaft historiographische Werke zu verfassen. Die Debatte implizierte damit generell die Frage, von wem und für wen Texte in dieser Zeit eigentlich produziert wurden. Darüber hinaus wollte man natürlich auch wissen, was eigentlich über Lesegewohnheiten, Lesepraktiken und über die Entwicklung der Alphabetisierung in Ägypten und Syrien gesagt werden kann. Da in der Debatte damals letztlich vieles ungeklärt blieb, freuen wir uns sehr, dass wir nun eine Reihe von Antworten in Form des von Konrad Hirschler 2012 genau zu diesen Themen veröffentlichten Sozial- und Kulturgeschichte bekommen.

Hirschlers Grundthese lautet: in der Zeit vom 12. bis zum 15. Jahrhundert habe - zumindest in Ägypten und Syrien - ein Prozess eingesetzt, der zum einen auf eine Förderung der Ausbildungsmöglichkeiten für eine größere Gruppe der Gesellschaft hinauslief. Mehr Kinder lernten Lesen und Schreiben. Damit ging einher, dass in zunehmendem Maße Personen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund an den gängigen Formen des Wissenserwerbs in Privathäusern, Medresen, Moscheen oder auf öffentlichen Plätzen teilnahmen. Dadurch erweiterte sich die geistige Elite und musste bis zu einem gewissen Grad ihre Exklusivität aufgeben.

In vier Hauptkapiteln skizziert Hirschler sehr überzeugend anhand unterschiedlichen Materials die entscheidenden Bereiche dieser Entwicklung: (1) Lesungen von Werken im öffentlichen Bildungsraum, (2) Schulgründungen, (3) kleinere Bibliotheken, (4) Ausweitung des Textkanons.

In einem ersten Schritt zeigt Hirschler anhand der Vermittlung der von Ibn ʾAsākir (gest. 1176) verfassten "Geschichte der Stadt Damaskus", in welchem Rahmen und von welchen Personen der voluminöse Text - gedruckt etwa 28.000 Seiten - rezipiert worden ist. (Kapitel 2: "A City is Reading: Popular and Scholarly Reading Sessions", 32-81) Dabei wertet er in erster Linie Hörervermerke aus, die in großer Zahl und über eine lange Zeit hinweg auf uns gekommen sind. Neben den Zirkeln, zu denen ausschließlich ʿulamāʾ zugelassen wurden, gab es große öffentliche Sitzungen, auf denen bis zu 1000 Personen unter Leitung eines Gelehrten ein Werk gemeinsam lasen und dafür Hörerscheine ausgestellt bekamen. Das dauerte bis zu zehn Jahren, doch musste man nicht zu allen Veranstaltungen erscheinen, sondern konnte sich Partien des Buches aussuchen. Unter den Zuhörern, so geht aus den Quellen hervor, befanden sich zahlreiche Handwerker, Händler und andere Personen aus zunächst einmal bildungsfernen Schichten. Für diese Gruppe bot die Teilnahme an diesen Sitzungen die Chance, Wissen als kulturelles und soziales Kapital zu erwerben. Obgleich man auf diese Weise natürlich keine Eintrittskarte zur eigentlichen Welt der Gelehrten erhielt, zeigt sich dennoch die allgemeine Popularisierung bei dem Zugang zur Ressource Wissen in der Region im Mittelalter.

Die vermehrte Partizipation an öffentlichen Lesungen setzte voraus, dass die Hörer eine gewisse Erziehung mitbrachten. Handbücher für Marktinspektoren, pädagogische Abhandlungen, Stiftungsurkunden und Buchillustrationen machen es möglich, die grundlegenden Veränderungen auf dem primären Bildungsbereich seit dem 13. Jahrhundert zu skizzieren. (Kapitel 3: "Learning to Read: Popularisation and the Written Word in Children's Schools", 82-123) Überall wurden Erziehungseinrichtungen für Kinder eingerichtet, in denen Lehrer offenbar mit neuen Methoden neue Inhalte vermittelten. Curriculare Änderungen führten zu einer bemerkenswerten Hinwendung zum geschriebenen Wort. Nicht mehr die Aneignung mnemotechnischer Fähigkeiten bzw. stures Auswendiglernen scheinen im Vordergrund gestanden zu haben, sondern die Lesefähigkeit und die Anfertigung eigener Texte. Diese Entwicklung schuf erst die Voraussetzung dafür, dass nun auch Menschen, die nicht aus der gelehrten Elite stammten, Bildungsangebote einforderten, die ihre Bedürfnisse berücksichtigten.

Vor diesem Hintergrund wundert es auch nicht, dass ein neuer Bibliothekstyp aufkam. (Kapitel 4: "Local Endowed Libraries and their Readers", 124-163) Neben den großen herrscherlichen Zentralbibliotheken stifteten Privatpersonen seit der Ayyubidenzeit lokal viele kleinere Bücherhallen. Dort fand die neue Bildungsschicht leichten Zugang zu Texten, die sie interessierte. Man konnte nun das Gelernte, nämlich die Lesefähigkeit, in der Praxis anwenden. Diese regionalen Bibliotheken verfügten selbstverständlich nur über bescheidene Bestände, doch ist Hirschler durch die beispielhafte Auswertung einer überlieferten Inventarliste - immerhin 2100 Bände - imstande, die thematische Verteilung einer solchen Institution nachzuvollziehen. Durch die Gründung dieser Einrichtungen verbreitete sich der Zugriff auf Texte innerhalb des Netzwerkes lesekundiger Personen (Gelehrte und Dilettanten) im Laufe der Zeit in nicht unerheblicher Weise.

Die neuen Gebildeten blieben nicht passiv, sondern schufen sich Freiräume jenseits der Welt der Religionsgelehrten. (Kapitel 5: "Popular Reading Practices", 164-196). Eigene Foren mit eigenen Regularien und eigenen Lese- und Hörpraktiken kamen auf. Die nicht zu den ʿulamāʾ gehörigen Personen entwickelten eine beträchtliche Handlungsfähigkeit, die dann den Widerstand der Gelehrten, die ihre Autorität gefährdet sahen, evozierte. Mit der Etablierung neuer Märkte und einer neuen Leserschaft hängt wohl auch die Verschriftlichung der bis dahin in der Regel nur mündlich vorgetragenen Volksepen - wie etwa 1001 Nacht oder die Sirat Antar und die Sirat Baybars - zusammen. In diesen Zusammenhang wird man, um auf den Beginn der Besprechung zurückzukommen, ebenfalls die von Ulrich Haarmann postulierte Literarisierung der Geschichtsschreibung, wenn dies wirklich ein erkennbarer Trend gewesen ist, einordnen können. Auf jeden Fall begannen im 15. Jahrhundert Laien damit, historiographische Texte zu verfassen.

Konrad Hirschler hat eine ausgezeichnete Studie vorgelegt, in der der er eine spannende These mit sehr guten Argumenten plausibel macht. Darüber hinaus besteht sein großes Verdienst darin, dass er mit Hörervermerken, Inventarlisten, Illustrationen, Handbüchern, pädagogischen Studien und Stiftungsurkunden sehr disparates und zum Teil bisher weitgehend unberücksichtigtes Material erfolgreich für seine Fragestellung erschließen konnte!


Anmerkung:

[1] Ulrich Haarmann: Quellenstudien zur frühen Mamlukezeit. Freiburg 1969, 159-183, ders.: "Auflösung und Bewahrung der klassichen Formen arabischer Geschichtsschreibung in der Zeit der Mamluken", in: ZDMG 121 (1971), 40-60, ders.: "Der Schatz im Haupte des Götzen", in: ders. / P. Bachmann (Hgg.): Die islamische Welt zwischen Mittelalter und Neuzeit (= Festschrift H.R. Römer). Beirut 1979, 198-229 und Bernd Radtke: Weltgeschichte und Weltbeschreibung im mittelalterlichen Islam, Beirut / Stuttgart 1992. Siehe dazu nun auch Thomas Herzog: Geschichte und Imaginaire. Entstehung, Überlieferung und Bedeutung der Sīrat Baybars in ihrem sozio-politischen Kontext, Wiesbaden 2006.

Rezension über:

Konrad Hirschler: The written word in the medieval Arabic lands. A social and cultural history of reading practices, Edinburgh: Edinburgh University Press 2011, VI + 234 S., ISBN 978-0-7486-4256-4 , GBP 65,00

Rezension von:
Stephan Conermann
Institut für Orient- und Asienwissenschaften, Universität Bonn
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Conermann: Rezension von: Konrad Hirschler: The written word in the medieval Arabic lands. A social and cultural history of reading practices, Edinburgh: Edinburgh University Press 2011, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 9 [15.09.2014], URL: https://www.sehepunkte.de/2014/09/26069.html


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