Als "Prinz Europas" ist Charles-Joseph de Ligne (1735-1814), belgischer General in österreichischen Diensten, Diplomat und frankophoner Schriftsteller, über Fachkreise hinaus vielleicht durch die Biographie von Philip Mansel [1] bekannt. Der belgische Literaturwissenschaftler Jeroome Vercruysse hat bereits mehrere Schriften de Lignes publiziert, etwa dessen "Journal de la Guerre" aus dem Siebenjährigen Krieg. [2] Im vorliegenden Band stellt er 65 bislang unveröffentlichte Texte de Lignes vor, die er mit kurzen inhaltlichen Zusammenfassungen, Anmerkungen und ausführlicher Textkritik versieht. Sie befassen sich allesamt mit Napoleon Bonaparte respektive dem französisch-österreichischen Verhältnis zwischen 1797 und 1814. Vercruysse will damit allerdings keine "Geschichte der Beziehungen beider Nationen" schreiben, sondern lediglich "Texte präsentieren, die enthüllen wie die Ligne wirklich war" (17).
Diese bescheidene Zielsetzung hat einen guten Grund: De Ligne wurde 1794 aus dem aktiven Militärdienst entlassen und bis zu seinem Tod nicht mehr mit militärischen oder diplomatischen Aufgaben betraut. Er hatte zwar gute Kontakte zu Entscheidungsträgern wie Metternich oder der kaiserlichen Familie, seine politischen und militärischen Ratschläge fanden jedoch allem Anschein nach keinerlei Beachtung. De Ligne reflektierte diese Einflusslosigkeit selbst mit Eigenhumor. Eine Denkschrift von 1799 betitelte er als "Memorandum, das ich die Ehre habe mir selbst ganz allein zu überreichen" (28). Vergeblich bat er wiederholt um ein militärisches Kommando oder eine diplomatische Mission.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der Prinz die tatsächlich agierenden Männer in Politik und Armee hart kritisierte. 1796 hätten "ein General in einer Sänfte, einer in einem Küchenwagen" Italien gegen Bonaparte verloren (136). 1804 bescheinigte de Ligne der österreichischen Armee aus den "besten Soldaten und den schlechtesten Offizieren der Welt" zu bestehen (55). Österreichs erneuten Feldzug gegen Napoleon 1809 hielt er für einen schweren Fehler. Anstatt sich defensiv zu verhalten, hätten "Schmeichelei, Dummheit, Oberflächlichkeit, Arroganz, Dünkel und Ignoranz" die Monarchie in einen "Krieg auf Leben und Tod" gestürzt (207). Noch im Oktober 1813, unmittelbar vor dem entscheidenden Sieg der Alliierten bei Leipzig, kritisierte er diverse Details der bisherigen Operationen der Verbündeten. De Ligne tritt in diesem Band folglich nicht zuletzt als Nörgler und Besserwisser auf. Seine alternativen Vorschläge und Pläne wirken wenig überzeugend. 1800 behauptete er, es sei ein leichtes, die Franzosen zu schlagen, die zwar "Esprit und Mut" hätten, aber zu komplizierteren Manövern unfähig seien (42). 1806 versprach er Metternich prahlerisch, 50.000 Österreicher unter seiner Führung, unterstützt von ebenso vielen Preußen, könnten Napoleon "décharlemagniser", also vom Thron Karls des Großen stürzen (160).
Weitere Kriegspläne de Lignes waren defensiver Natur. Er propagierte die Anlage von Festungen in Deutschland und Italien sowie in Österreich selbst als sicheres Mittel, um Napoleon aufhalten zu können. Besonders hartnäckig unterbreitete er Pläne zur Verteidigung Wiens. Selbst im Juli 1813, also nur wenige Monate vor Napoleons vernichtender Niederlage bei Leipzig, schwadronierte er gegenüber Metternich über die Befestigung der österreichischen Hauptstadt für den Fall eines französischen Angriffs. Wenig Bedeutung maß de Ligne in den hier publizierten Texten der Gewinnung von Verbündeten bei. Lediglich in einem Text von Anfang 1805 plädierte er entschieden für ein österreichisch-preußisches Zusammengehen gegen die gemeinsame Bedrohung. Anfang 1813 warnte er sogar ausdrücklich davor, sich Russen und Preußen im Kampf gegen Napoleon anzuschließen, dies würde ein "sicheres Unglück" zur Folge haben (323). De Ligne empfahl hingegen, Österreich solle sich rüsten und befestigen, um Napoleon von einem Angriff abzuschrecken und dann in Ruhe auf dessen Tod warten. Das Empire werde dann in Anarchie versinken und Österreich könne Frankreichs Machtstellung in Deutschland und Italien erben (325). Im Juli 1813, ungefähr einen Monat bevor sich Österreich der antinapoleonischen Koalition anschloss, warnte er Metternich nochmals, Österreich sei zu schwach, um gegen Napoleon bestehen zu können. Metternich notierte auf diesem Schreiben trocken: "Ich habe auf diesen Brief mit dem Einzug in Paris 9 Monate später geantwortet." (337) Vor dem Hintergrund des mitunter geradezu naiven Charakters von de Lignes Überlegungen und ihrer Diskrepanz zur tatsächlichen österreichischen Politik drängt sich die Frage auf, welchen Wert die Lektüre der hier gesammelten Schriften hat.
Als Antwort darauf wäre zunächst ihr durchaus vorhandener literarischer Reiz zu nennen. So verfasste de Ligne etwa ein fiktives "Gebet der Wiener Israeliten" (212) voll von biblischen Metaphern für die zeitgenössische Bedrohung Wiens durch Napoleons Truppen. Er schlüpft bei einigen seiner Überlegungen in verschiedene Rollen, etwa die eines britischen Parlamentariers, eines "Kaisers des Orients" oder gar in diejenige von Napoleon selbst. Auch seine Charakterstudien Napoleons, den er 1807 in Dresden sah, sind originell. De Ligne erkannte sein militärisches Talent durchaus an: "Niemand bewundert die Kraft seines Genies mehr als ich" (175). Er äußerte sich jedoch auch extrem negativ über den "verzehrenden Tiger" (80), über "das Monster, das nur auf Idioten Zauber ausübt" (184). Neben Napoleons Expansionismus kritisierte er in erster Linie dessen Mangel an Charme: "Alles, was zum Departement des Herzens gehört und alles, was man "Esprit" nennt, ist ihm fremd." (147) An anderer Stelle unterstellte er ihm den "schlechten Geschmack eines italienischen Marquis" (155) und riet ihm, lieber keine Reden zu halten, weil er das Französische nur "radebrechen" könne (90).
Diese Kritik verweist auf den zweiten Aspekt, der die Lektüre interessant macht: de Lignes Blick auf Napoleon und die Napoleonischen Kriege mit den Augen des Ancien Régime. Von Begeisterung für die Popularisierung des Krieges und der Einbeziehung der Bevölkerung fehlt jede Spur. 1812 erklärte er, wenn die Franzosen ab und zu 200 Aufständische erschießen würden, kämen sämtliche Erhebungen in Deutschland schnell an ihr Ende (325). Den Versuch, das Volk in den Kampf (zumindest propagandistisch) einzubeziehen, sah er äußerst kritisch: "Ich lese überall Aufrufe der Fürsten an ihre Völker (...): Unter dem Vorwand des Kampfes gegen Frankreich jakobinisiert sich Europa." (323) De Lignes Ablehnung eines "Volkskriegs" weist ihn als Vertreter einer Denkrichtung aus, an der sich in Preußen Reformer wie Gneisenau und Scharnhorst jahrelang abarbeiteten. De Lignes Überlegungen und Memoranden über die richtige Kriegsführung gegen Napoleon stellen somit einen interessanten Kontrast dar zu den entsprechenden Schriften der preußischen Reformer und können deren innovativen Charakter erhellen.
Anmerkungen:
[1] Philip Mansel: Der Prinz Europas: Prince Charles-Joseph de Ligne 1735-1814. Stuttgart 2006.
[2] Vgl. die Rezension von Sven Externbrink in sehepunkte 9 (2009), Nr. 9 [15.09.2009], URL: http://www.sehepunkte.de/2009/09/14794.html.
Prince Charles-Joseph de Ligne: Napoléon - France-Autriche 1797-1814. Textes réunis, établis, introduits et annótes par Jeroom Vercruysse (= L'Âge des Lumières; No. 72), Paris: Editions Honoré Champion 2013, 409 S., ISBN 978-2-7453-2527-3, EUR 70,00
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