Anzuzeigen ist der achte und abschließende Editionsband der Briefe von Theodor Heuss. Mit diesem Buch hat die Stuttgarter Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus seit 2007 eine beachtliche Leistung vollbracht, die für die Heuss-Forschung zahlreiche Quellen einfacher zugänglich macht. Nicht minder beachtlich ist die Leistung des Herausgebers und Bearbeiters dieses Bandes, die allein schon an den Zahlen deutlich wird. In den vier Jahren zwischen seinem Ausscheiden aus dem Amt des Bundespräsidenten und seinem Tod hat Heuss 10.550 Briefe geschrieben, entweder eigenhändig oder per Diktat. Das sind, wenn man die zunehmend häufiger werdenden krankheitsbedingten Pausen berücksichtigt, annähernd acht Briefe pro Tag. Günther hat daraus 200 Stücke ausgewählt, die einen Querschnitt durch die nach wie vor enorme Breite der Heuss-Korrespondenz auch in den Jahren als Privatier zeigen. Im Dokumentenverzeichnis und beim Abdruck geben Stichworte kurz den Inhalt der Briefe wieder. Die heute leider nicht mehr allerorts übliche ausführliche Einführung gibt zudem einen guten Überblick über die Aktivitäten von Heuss in der Zeit von September 1959 bis Dezember 1963. Ein Personen- und ein auf die Themen des Bandes zugeschnittenes Sachregister erschließen zusätzlich die Inhalte, was angesichts der thematischen Vielfalt unverzichtbar ist. Gleichzeitig lassen die Register auch die Schwerpunkte der Edition erkennen, einzelne Heuss besonders interessierende Staaten wie etwa Israel oder seine beachtliche Vortragstätigkeit.
Die Zahl der Briefe verdeutlicht, dass Heuss (noch) einer Generation von Politikern angehörte, für die das Pflegen von Korrespondenz ein wesentlicher Teil ihrer politischen und persönlichen Existenz darstellte. In dem Zusammenhang gewinnen dann auch scheinbare Kleinigkeiten bisweilen eine auf den ersten Blick ungeahnte Bedeutung. So eröffnete die Abstufung von einem handgeschriebenen Brief über einen diktierten maschinenschriftlichen, aber persönlich unterzeichneten Brief bis hin zu einem in dritter Person diktierten und von der Sekretärin unterschriebenen Brief Möglichkeiten, ein abgestuftes Maß von Nähe bzw. Distanz zum Adressaten zu schaffen. Es wird eine nicht ganz einfache Aufgabe für Historiker und Archivare werden, die Verdrängung des Briefeschreibens zuerst durch das Telefonieren und dann durch SMSs, Tweets usw. methodisch und technisch zu bewältigen.
Heuss selbst hat über den Umfang seiner Korrespondenz vielfach geklagt, auch in den Briefen (21 f.). Zu oft wurde er, wie noch als Bundespräsident, um Intervention in Einzelschicksalen gebeten, die er weder leisten konnte noch wollte. Auch mit weniger Beispielen wäre dies deutlich geworden. Dabei konnte der Alt-Bundespräsident in seinen Antworten auch überraschend deutlich werden: Für "Unfug" (338) jedweder Art war er nicht zu haben. Viel lieber wollte Heuss seine publizistischen Pläne weiter verfolgen, vor allem die Niederschrift seiner Lebenserinnerungen für die Zeit bis 1933, wie er immer wieder betonte.
Bei nur wenigen Adressaten werden mehrere Briefe abgedruckt: einige Verwandte, seine langjährige Freundin Toni Stolper, Bundeskanzler Konrad Adenauer und der ehemalige Chef des Bundespräsidialamts, Karl Theodor Bleek, zählen dazu. Ansonsten sind es viele Einzelschreiben, oft Antworten auf an Heuss adressierte Schreiben, die zum Abdruck kommen. Es ist daher kaum verwunderlich, dass am Ende eine lange Reihe von einzelnen Heuss-Äußerungen zu dieser oder jener Frage herauskommt, wobei die Breite der Palette von Fragen, zu denen sich der Alt-Bundespräsident äußerte, durchaus beeindruckend ist.
Aus der Politik, zumal aus deren Tagesgeschäft, hielt er sich heraus. Parteitags- oder gar Wahlkampfauftritte lehnte er ab. Durchaus bekannte Urteile von Heuss über manche FDP-Politiker (Reinhold Maier, Wolfgang Döring) werden jedoch in den Briefen nochmals bestätigt. Das bedeutete aber keineswegs, dass er nicht zu der einen oder anderen Sache vertraulich Stellung genommen hätte. So bekam der FDP-Vorsitzende Erich Mende Anfang November 1961 zu lesen, die Partei solle endlich bei der Regierungsbildung mit der Union "zu einem baldigen Abschluß" kommen, alles andere beschädige "das moralische Ansehen der parlamentarischen Demokratie" (352 f.). Adenauer drängte er mehrmals, bei der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zum Staat Israel voranzukommen, was der Bundeskanzler unter Hinweis auf die Haltung der amerikanischen Regierung ablehnte.
Wenig überraschend ist, dass manche Themen der Geschichtsschreibung öfters eine Rolle in der Edition spielen. Andere Fragen aber bleiben mehr oder weniger ausgespart. So kommt die Zustimmung von Heuss zum Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 nur in einem Brief vor. Die ziemlich kühle Antwort auf das Schreiben eines Oberhausener Notars, der unter anderem nach Gründen für die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz gefragt hatte, ließ Heuss durch seine Sekretärin unterschreiben. Eine Stellungnahme in der Sache wurde mit der Begründung abgelehnt, "Professor Heuss" habe "es sich selbst zum Gesetz gemacht, mit ihm völlig fremden Menschen keinerlei vertrauliche politische Korrespondenz zu führen" (215 f.). So recht vermag dieses Begründung freilich nicht zu überzeugen, da in dem gleichen Brief eine weitere Frage nach der Einrichtung eines Oberhauses anstelle des Bundesrates durchaus ausführlich inhaltlich beantwortet wurde. Offenbar berührte die erste Frage doch einen immer noch wunden Punkt bei Heuss.
Jüngst wurde auf einer Tagung darauf hingewiesen, dass Heuss-Forschung international praktisch nicht stattfinde. Auch durch diese nunmehr abgeschlossene Edition ausgewählter Heuss-Briefe bleibt der Naumann-Schüler und spätere Bundespräsident eine Figur der (bundes-)deutschen Geschichte, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Doch selbst wenn er allenfalls in dem Jahrzehnt als Bundespräsident in der ersten Reihe der deutschen Politik stand, so gewährt die Heuss-Korrespondenz von 1892 bis 1963 gleichwohl einen überaus lesenswerten und lehrreichen Einblick in mehr als 70 Jahre deutsche Geschichte.
Frieder Günther (Hg.): Theodor Heuss. Privatier und Elder Statesman. Briefe 1959-1963, Berlin: De Gruyter 2014, 621 S., ISBN 978-3-598-25129-0, EUR 39,95
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