"Playmobil-Luther nach 72 Stunden ausverkauft", so meldete die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 11. Februar diesen Jahres. 34.000 Plastikmännchen, die den Gottesmann mit schwarzem Talar, schwarzer Kappe und deutscher Bibelübersetzung darstellten, hatte die Spielzeugfirma hergestellt. Innerhalb von drei Tagen waren diese verkauft, so groß war der Run auf den Plastikreformator. Luther wird uns 500 Jahre nach dem Beginn der Reformation vor allem als Spielfigur, als Konsumobjekt und nicht zuletzt als Tourismusmagnet präsentiert, der zahlungskräftige Reisende in die sogenannten neuen Bundesländer locken soll.
1983 zum 500. Geburtstag Luthers war dieses Jubiläum noch völlig anders öffentlich aufgegriffen worden, was zum einen auf die Veränderung bei der Thematisierung von Geschichte generell, zum anderen auf die politischen Koordinaten der deutsch-deutschen Teilung verweist. Die Tageszeitung Die Welt kürte den Gründungsprotestanten in ihrer Ausgabe vom 22. Januar 1982 zum "letzten Gesamtdeutschen". Dies lässt sich dem Beitrag von Jan Scheunemann ebenso entnehmen wie die Widerlegung dieser zeitgenössischen These: Im deutsch-deutschen Systemstreit entdeckte die SED-Führung das geschichts- und kulturpolitische Potenzial, welches Luther für die DDR-eigene Selbstverortung bot. Nachdem man von Staats wegen zunächst der evangelischen Kirche die Feierlichkeiten und deren Gestaltung überlassen wollte, zog später Erich Honecker persönlich die Regie an sich - und provozierte damit zugleich, dass die bundesrepublikanische Politikprominenz davon abrückte. Hatte man zwischenzeitlich, so kann Scheunemann in seinem Beitrag zeigen, die Teilnahme von Bundeskanzler und Präsidenten an den Feierlichkeiten erwogen, hielt man sich nach dieser Wendung eher bedeckt. Der per Post übermittelte Wunsch von Bundespräsident Karl Carstens, dass die Feier das "Bewußtsein brüderlicher Verbundenheit" stärken möge, wirkte dann allenfalls noch als hohler Nachklapp.
Es sind diese und andere Beobachtungen, die den vorliegenden Sammelband zu einem wichtigen und wertvollen Beitrag zu einer deutsch-deutschen Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts machen. Bemerkenswert diszipliniert halten sich (fast) alle zwölf Beiträgerinnen und Beiträger an die Vorgabe der drei Herausgeber, Christoph Kleßmanns Formel von der asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte von Bundesrepublik und DDR zu folgen und auf ihren analytischen Tiefgang hin empirisch auszuloten. Davon ausgehend entwickeln die Aufsätze ein Panorama von Studien, die zum Teil bereits bekannte Phänomene der Verflechtungsgeschichte neu ausleuchten oder aber auch überraschend neue Perspektiven eröffnen.
Das Gros der Beiträge bewegt sich dabei außerhalb der Geschichte der klassischen Politikbereiche oder gar der internationalen Beziehungen. Stattdessen werden Mikrostudien zu weniger beachteten Feldern von Verflechtung und gemeinsamen Erfahrungsräumen, aber auch zu Eigenentwicklungen und bewusster Abgrenzung erarbeitet: Der deutsch-deutsche Brief- und Paketverkehr wird hier dargestellt am Beispiel der Korrespondenz zwischen einem enteigneten und geflohenen Gutsbesitzer und seinen ehemaligen, in der DDR verbliebenen Angestellten (Ines Langelüddecke). Filmfestivals in Oberhausen und Leipzig werden als ebenso verbindendes wie trennendes Moment konturiert (Andreas Kötzing). Kampagnen und öffentliche Vorsorge zur Suizidprävention (Udo Grashoff) werden ebenso wie Geschlechterbilder im Umgang mit chronischen Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems (Jeannette Madarász-Lebenhagen, Antje Kampf) in ihren deutsch-deutschen Verflechtungen beschrieben. Wie auch jenseits der klassischen Politikbereiche verflechtungsgeschichtliche Arbeiten entstehen können, zeigt Sylvia Necker mit ihrer Studie zur Transitautobahn A 24. Die Skizze ihrer noch fertigzustellenden Studie beleuchtet einen strikt bewachten, stark begrenzten und doch hoch lebendigen deutsch-deutschen Verkehrs- und Austauschraum. Zu dem bereits vorgestellten Beitrag zum 500. Luthergeburtstag 1983 fügen sich die breit angelegten Überlegungen von Arnd Bauerkämper zur Praxis des NS-Gedenkens in beiden deutschen Staaten. In Ost und West übernahmen Veteranenverbände die wichtige Funktion der Integration der Wehrmachtsangehörigen und früheren Nationalsozialisten. Sie konnten dieses leisten, indem sie eine extrem selektive Erinnerungsarbeit praktizierten.
Einleitend diskutieren die drei Herausgeber die für die Beiträge zur Richtschnur gemachte Formel Kleßmanns. Ohne diese zum verbindlichen Königsweg zu erklären, gilt sie ihnen doch als die bisher anregendste historiographische Formulierung. Sicher navigieren sie in der Einleitung durch die bisherigen Versuche, sich methodisch und empirisch zu orientieren. Mindestens indirekt zeigen sie damit auch, woran es mit Blick auf eine deutsch-deutsche Geschichte der Nachkriegszeit mangelt und woran nicht: Überlegungen dazu, wie eine solche Geschichte zu schreiben sei, gibt es mittlerweile in vielfachen Variationen. Zumindest theoretisch scheinen alle Fallstricke bedacht, die sich aus dem Versuch ergeben, die Geschichte Deutschlands zwischen 1945 und 1990 zu schreiben. Ein überzeugender Versuch aber, monographisch eine deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte "nach Kleßmann" zu verfassen, steht noch aus. Dem im Vorwort von Günther Heydemann geäußerten Wunsch, dass dieser Band einen Grundstein sein könne für eine "umfassende bzw. integrale, asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte in nicht allzu ferner Zeit" (10), kann man sich nur anschließen.
Detlev Brunner / Udo Grashoff / Andreas Kötzing (Hg.): Asymmetrisch verflochten? Neue Forschungen zur gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte, Berlin: Ch. Links Verlag 2013, 234 S., ISBN 978-3-86153-748-9, EUR 29,90
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