Gastfreundschaft wird in dieser umfangreichen, aus einer Habilitationsschrift der FU Berlin hervorgegangenen Untersuchung weit gefasst. Verhandelt werden Orte und Normen frühneuzeitlicher Gastlichkeit, aber auch die konkreten Situationen und Konstellationen, also wie Akteure (Gäste und Gastgeber) handelten, welchen Mustern und Logiken ihre Handlungen folgten sowie welche Absichten damit verbunden wurden. Die untersuchten Quellen stammen vor allem aus dem deutschsprachigen Raum; in erster Linie handelt es sich um Selbstzeugnisse frühneuzeitlicher Gelehrter sowie um Texte unterschiedlicher Art, die Auskunft darüber geben, auf welche Normen gastliches Handeln in der Frühen Neuzeit bezogen war. In vier Kapiteln wird untersucht, welche Rolle Gastfreundschaft in der frühneuzeitlichen Gesellschaft spielte, wie sich über sie soziale Konfigurationen ("Gruppenkulturen") konstituierten und auf Dauer gestellt wurden, welche Ressourcen und Rituale dabei eingesetzt wurden sowie auf welche soziale und ökonomische Normen und Kontexte Gastfreundschaft referierte. Ein abschließendes fünftes Kapitel beobachtet die frühneuzeitliche (europäische) Gastfreundschaft von außen: einmal auf Grundlage eines Tagebuchs, in dem der jüdische Gelehrte Ha'im Yoseph David Azulai Erfahrungen auf einer Reise vom osmanischen Reich nach Europa notierte, zum anderen aus Sicht des Menschheitshistorikers C.C. L. Hirschfeld, der 1777 eine Art Anthropologie der Gastfreundschaft veröffentlichte.
Die Arbeit führt, jeweils ausgehend von präzisen, aufschlussreichen Quelleninterpretationen, eindrucksvoll vor Augen, wie Gastfreundschaft in der Frühen Neuzeit funktionierte, welche genaue Bedeutung Praktiken wie etwa das Schlafen von Männern in gemeinsamen Betten hatte, welche Ökonomie sozialer Beziehungen der Gastfreundschaft und ihren Ritualen (zu denen u.a. die richtige Wahl der Worte oder die Überprüfung gelehrter Kompetenzen gehörten) zugrunde lag. Gastliches Handeln wird in dieser Arbeit als eine normale und zugleich notwendige Strategie deutlich gemacht, die frühneuzeitliche "Haushalte" einsetzten (und einsetzen mussten), um soziale Anerkennung zu generieren und stabil zu halten. Gastlichkeit diente als ein Mittel, "Haushalte" mit der Gesellschaft zu verbinden, Beziehungsnetze zu entwickeln und auf vielfältige Weise nutzen zu können, zudem als ein Medium der Herstellung von Sichtbarkeit. All das betraf nicht nur frühneuzeitliche Gelehrte, wird aber in dieser Untersuchung vor allem an ihnen exemplifiziert: "Durch die Praxis der Tischgemeinschaft oder der Briefwechsel entstand aus der sozialen Gruppe der Gelehrten eine ideelle, kulturelle und nicht zuletzt auch affektive Gemeinschaft der beteiligten Personen" (93).
Zur frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur und ihren Praktiken entstanden in den letzten Jahren viele Untersuchungen. [1] Die vorliegende Arbeit akzentuiert ihre soziale Dimension. Zum Gelehrten wurde man nicht nur über gelehrte Kompetenzen und Werke. Um als Gelehrter erkannt zu werden und sich zu etablieren, waren distinktive soziale Fähigkeiten und bestimmte Ressourcen erforderlich, die im Rahmen von Gastfreundschaften eingesetzt und umgesetzt wurden. Das arbeitet die vorliegende Untersuchung überzeugend heraus. Es wäre interessant gewesen, davon ausgehend auf die Gegenwart zu schauen, was zwar allgemein angesprochen (476), aber nicht weiter ausgeführt wird. Denn natürlich ist es auch heute so, dass nicht in erster Linie die wissenschaftlichen Produkte darüber entscheiden, wer als Wissenschaftlicher Karriere macht, vielmehr Beziehungsnetze und performative Auftritte, also besondere soziale und kommunikative Fähigkeiten, die zwar heute auf andere Weise als in der Frühen Neuzeit aufgebaut und unter Beweis gestellt werden, doch weiterhin ausschlaggebend für wissenschaftliche Karrieren sind.
Eine weitere Anmerkung sei erlaubt. Die abschließend analysierte Schrift Von der Gastfreundschaft: Eine Apologie der Menschheit, die der Aufklärer Hirschfeld verfasste, steht in vielem auf der Schwelle zum modernen (mit Freiwilligkeit und Offenheit für Fremde assoziierten) Verständnis von Gastfreundschaft; zugleich lässt sie sich als Kritik traditioneller Gastlichkeit verstehen. Die Verfasserin liest diesen Text allerdings weniger als aufschlussreiches Dokument der Transformation und Kritik des frühneuzeitlichen Modells von Gastlichkeit, vielmehr wird Hirschfeld von ihr heftig kritisiert, weil er, obwohl doch praktisch noch in die 'alte' Gastlichkeit eingebunden, diese in seiner Abhandlung nicht differenziert berücksichtige und stattdessen auf eine abstrakte, mit (fragwürdigen) ethnologischen Daten untermauerte Großtheorie setze. Insbesondere kritisiert sie, dass Hirschfeld bei seiner Analyse nicht die eigene "Lebenswelt" (468) miteinbeziehe. Das findet der Rezensent nicht fair. Schreiben unter Absehung persönlicher Lebensumstände, wie es Hirschfeld betreibt, ist konstitutiv für das moderne ('objektive') wissenschaftliche Schreiben, das auch die Verfasserin praktiziert, denn über die besonderen Formen und Praktiken eigener (heutiger) "Gastlichkeit" erfährt ja auch der Leser dieser analytisch scharfsinnigen und spannenden Untersuchung nichts.
Anmerkung:
[1] U.a. Luise Schorn-Schütte (Hg.): Intellektuelle in der Frühen Neuzeit, Berlin 2010; Ann M. Blair: Too Much to Know. Managing Scholarly Information before the Modern Age, New Haven & London 2010; Herbert Jaumann (Hg.): Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch, Berlin 2011; Rainer Bayreuther / Meinrad von Engelberg / Sina Rauschenbach / Isabella von Treskow (Hgg.): Kritik in der Frühen Neuzeit. Intellektuelle avant la lettre, Wiesbaden 2011; Martin Mulsow / Frank Rexroth (Hgg.): Was als wissenschaftlich gelten darf. Praktiken der Grenzziehung in Gelehrtenmilieus der Vormoderne, Frankfurt a.M. / New York 2014.
Gabriele Jancke: Gastfreundschaft in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Praktiken, Normen und Perspektiven von Gelehrten (= Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung; Bd. 15), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 576 S., ISBN 978-3-8471-0179-6, EUR 79,99
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