Die Untersuchung von Christoph Nübel, eine in der Kieler Graduiertenschule "Human Develoment in Landscape" bei Christoph Cornelißen entstandene Dissertation, führt am Beispiel der deutschen Westfront des Ersten Weltkrieges Ansätze des "spatial turns" mit Fragen der Körper-, der Erfahrungs- und der Militärgeschichte zusammen. Ausgehend vom Konzept des Raumes, präsentiert sie eine Fülle von interessanten Materialien, Aspekten, Perspektiven und Deutungen. Das gilt nicht nur für die Erarbeitung soldatischer Kriegserfahrungen im Spannungsfeld von Räumlichkeit, Körperlichkeit und militärischen Anforderungen in den Kampfzonen der Westfront, sondern auch für eine darüber hinausweisende, allgemeinere Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges. Trotzdem bleibt die Arbeit in der analytischen Durchdringung ihres Materials in mancher Hinsicht unbefriedigend, nicht zuletzt weil der Autor dazu neigt, in seinem Thema zu schwelgen und hochgestochene Begrifflichkeiten, Formulierungen und Bezüge an die Stelle präzise bestimmter Konzepte und Untersuchungsstrategien zu stellen.
Anstelle einer zusammenfassenden Charakterisierung des Forschungsstandes widmet sich schon die Einleitung der nur scheinbar tiefsinnigeren Frage: "Wie man seit 1914 über neue Erfahrungen Buch führte", und geht dabei von so bahnbrechenden Einsichten aus wie der, dass "die Geschichte des Ersten Weltkrieges (...) immer auch mit der Geschichte der Versuche verbunden (ist), dieses gravierende Ereignis historiografisch zu erfassen und zu erzählen. Geschichte und Geschichtsschreibung verweisen aufeinander." (1) Angestrebt wird eine "Geschichte der Raumerfahrung im Krieg", die sich ganz tautologisch "durch die offensichtliche Nähe von Krieg und Raum bestimmt." (4f.) Dafür werden drei "historische Raumschichten" aus der "Allgegenwart des Raumes in der Geschichte des Ersten Weltkrieges" (12) herausgelöst, wie die Unterscheidung zwischen einer "Umwelt" der "physisch-geographischen Bedingungen", einem "Gelände" in der Perspektive militärischer Strategieplanungen sowie einer "Landschaft" jenseits militärischer Zweckmäßigkeiten begründet wird. Eine Konzeption für die Verbindung dieser Ebenen sucht man dagegen vergeblich. Stattdessen wirft der Autor noch den aus der frühneuzeitlichen Militärgeschichte entlehnten Begriff des "Kriegstheaters" in den Raum, mit dessen Hilfe die Unterteilung der Westfront in fünf landschaftlich verschieden geprägte Kampfzonen (Flandern, Somme, Champagne, Verdun, Vogesen) begrifflich aufpoliert wird.
Man könnte noch eine Vielzahl weiterer Bemühungen um große Bezüge und schillernde Formulierungen ohne spezifischen Erkenntnisgewinn vorführen, von der Westfront als "Kriegs-Schauplatz" mit bedeutungsschwangerem Bindestrich über die "Anthropologie des Schlachtfeldes" bis zu den abschließend reflektierten "Möglichkeiten im Raum der Militärgeschichte", um nur aus Kapitelüberschriften zu zitieren. Doch dem Ertrag der Arbeit, die tatsächlich ein vielfältiges Panorama der Lebensbedingungen, Kriegserfahrungen und sinnstiftenden Verarbeitungen in den Kampfzonen der Westfront entwirft, würde man damit nicht gerecht werden. Im ersten Hauptteil wird insgesamt ein sehr eindringliches Bild von den vielfältigen lebensweltlichen Zumutungen gezeichnet, denen die Soldaten insbesondere in den Schützengräben ausgesetzt waren. Dabei geht es sowohl um die klimatischen Verhältnisse eines 'Lebens in der Natur', um Nässe und Kälte, um Hitze und Exkremente, als auch um die Bedingungen und Wirkungen, die von den Kriegshandlungen selbst ausgingen. Fragen der Gesundheit und Hygiene werden ebenso behandelt wie die zeitgenössischen Deutungen des Lebens an der Front, die von einem Prozess der seelischen Stärkung über die Anpassung des Menschen an die Natur bis zur Konstruktion eines neuen, idealen Menschen reichten, der vom "Schützengraben als Erzieher" hervorgebracht werde.
Allerdings handelte es sich hier um hochideologische Konstruktionen, deren Spannungsfeld zu den Erfahrungen der Soldaten nicht systematisch reflektiert wird. Diese Schwäche belastet auch das zweite Hauptkapitel, das sich mit dem militärischen Blick auf das "Gelände" des Krieges unter der Perspektive "Taktik und Ausbildung im Stellungskrieg" beschäftigt. Hier werden "die durch die militärische Ausbildung vermittelten Fertigkeiten, also die während des Krieges 'gemachten Erfahrungen' der Soldaten, betrachtet" (144), heißt es stattdessen in tiefsinniger Vieldeutigkeit. Aber es wird vielschichtig herausgearbeitet, wie die militärischen Stäbe die Bedingungen des Grabenkrieges reflektiert, ihre Strategien angepasst und ihr soldatisches Menschenmaterial dafür ausgebildet haben. Am Beispiel des gut dokumentierten Angriffs einer bayerischen Infanterieregiments Anfang 1916 auf französische Stellungen nördlich von Arras wird verdeutlicht, wie die neuen, vor allem auf autonome Kampfgruppen gestützten strategischen Ansätze, die einige Monate später auch die Schlacht um Verdun prägen sollten, in der Praxis ausprobiert wurden. Ob es allerdings wirklich zweckmäßig ist, die in den neuen Ausbildungsvorschriften nun geforderte Zuweisung der Mannschaften je nach Veranlagung in spezifische Sonderausbildungszweige für die unterschiedlichen Anforderungen des modernen Krieges unter dem Paradigma der Biopolitik zu analysieren, kann durchaus bezweifelt werden.
Das längste Kapitel des Buches befasst sich schließlich mit der Landschaft des Krieges, worunter so vielfältige und unterschiedliche Themen wie Heimatbilder der Soldaten, Erinnerungslandschaften vor allem in Form von Soldatengräbern und Friedhöfen, Bilder von "Land und Leuten" und natürlich verschiedene Formen von durch Kampfhandlungen geschaffenen Kriegslandschaften behandelt werden. Abgesehen von dem immer wieder merkwürdigen Erstaunen darüber, dass nicht nur bildungsbürgerlich geprägte Soldaten die Natur und ihre Schönheit empfinden konnten (nicht nur dafür sei der schon vor Jahrzehnten veröffentlichte Briefwechsel des eingezogenen Bremer Arbeiters Robert Pöhland und seiner Frau Anna empfohlen), werden hier die vielfältigen Sinnbezüge, in die das Kriegserleben der Frontsoldaten über die unmittelbaren Sinnfragen des Krieges hinaus eingewoben war, überaus deutlich herausgearbeitet. Warum dabei allerdings die deutsche Kriegsniederlage im Kontext einer zunehmend endenden "Anpassungsfähigkeit an die fremde Welt des Krieges" (352) gedeutet und schließlich sogar - Raum erzwingt auch die Thematisierung von Zeit - darauf zurückgeführt wird, dass 1918 "das deutsche Heer vom beschleunigten Wandel des Krieges überholt zu werden" drohte (367), erschließt sich dem Rezensenten nicht.
Insgesamt zeigt die Arbeit, die erstmals in solcher Breite und Tiefe die Kategorie Raum in das Zentrum einer Erfahrungsgeschichte des Ersten Weltkrieges rückt, wie vielfältige Ergebnisse mit einer solchen Perspektive zu gewinnen sind. Für weitere Forschungen wäre es indes förderlich, konzeptionell und methodisch klarer konturierte, damit auch deutlicher abgegrenzte Vorgehensweisen zu entwickeln.
Christoph Nübel: Durchhalten und Überleben an der Westfront. Raum und Körper im Ersten Weltkrieg (= Zeitalter der Weltkriege; Bd. 10), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, X + 484 S., 39 s/w-Abb., 1 Karte, ISBN 978-3-506-78083-6, EUR 44,90
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