Vor mehr als einhundert Jahren erschien die zweite Auflage der Sylloge inscriptionum graecarum von Wilhelm Dittenberger, deren dritte, von Friedrich Hiller von Gaertringen herausgegebene Auflage aus den Jahren 1915 bis 1924 bis heute ein unabdingbares Arbeitsinstrument in den Altertumswissenschaften ist. Es war niemand geringeres als Adolf Wilhelm, der in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen den 1898 publizierten ersten Band der zweiten Auflage besprach. [1] Einleitend schildert er dabei, wie er das Erscheinen der beiden Folgebände erlebte: "Als an einem Winterabend des Jahres 1901 zahlreiche jüngere Vertreter der Altertumswissenschaft aus den verschiedensten Ländern des Erdballs auf Grund einer liebenswürdigen Einladung ihrer französischen Studiengenossen in den gastlichen Räumen der École française zu Athen weilten, rief die Kunde, der zweite und dritte Band der Sylloge inscriptionum graecarum sei erschienen, lebhafte und freudige Bewegung hervor. Es bedurfte nicht erst eines Antrages oder einer Besprechung: einmütig und unmittelbar äußerte sich der Gedanke, die Vollendung des Werkes durch einen Glückwunsch an den Meister zu feiern. Gegen Mitternacht zog von dem herrlichen Garten am Lykabettos, in dem die École française ihr würdiges Heim hat, die ganze Schar zum Fernsprechamt, und durch die stillen Straßen Athens hallte laut der Name Wilhelm Dittenbergers."
Auch wenn das Erscheinen altertumswissenschaftlicher Werke heute kaum mehr in der von Adolf Wilhelm geschilderten Art und Weise begangen werden wird, so steht doch ganz außer Frage, dass die Publikation des hier anzuzeigenden Neuen Overbeck (DNO) ein Ereignis ist, das einer Aufnahme wie seinerzeit des zweiten und dritten Bandes von Dittenbergers Sylloge inscriptionum graecarum zweifelsfrei würdig wäre.
"Der Overbeck" - das war für gut 150 Jahre ein unablässiges Arbeitsinstrumentarium für jeden, der im Rahmen einer Beschäftigung mit der bildenden Kunst der Griechen nicht allein die Artefakte behandeln, sondern auch die literarischen Quellen berücksichtigen wollte: Auf 475 Druckseiten hatte Johannes Overbeck in seinen 1868 erschienenen Antiken Schriftquellen zur Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen über 2400 Texte zusammengestellt, deren Autoren mehr als 2000 Jahre umspannen - angefangen mit Homer und seiner Beschreibung von Achills Schild (Overbeck, Schriftquellen 210 <25-29>; DNO I, *112 <52-53>) und endend mit Theodoros Hyrtakenos, der in seiner Leichenrede auf den byzantinischen Kaiser Michael IX. Palaiologos die Bewunderung der alten Griechen für die Steinmetzkunst des Phidias, die Bildhauerkunst des Thales (sic) und die Malerei des Apelles thematisiert (Overbeck, Schriftquellen 789 <142> = DNO II, 1073 <317>). Doch so unabdingbar "Der Overbeck" als Arbeitsinstrument auch war, so war er doch naturgemäß in die Jahre gekommen - und ein 'Neuer Overbeck' stellte seit geraumer Zeit ein altertumswissenschaftliches Desideratum dar: Nicht nur das Bekanntwerden neuer Texte wie etwa dem Gnomologium Vaticanum oder der ekphrastischen Epigramme des hellenistischen Dichters Poseidippos von Pella und neue Lesungen in altbekannten Texten im Rahmen neuer kritischer Editionen bedingten die Notwendigkeit, "den Overbeck" zu ersetzen - auch der weitestgehende Verzicht auf eine Kommentierung der zusammengestellten Textzeugnisse sowie das Fehlen von Übersetzungen schränkten den Nutzen dieses Klassikers zunehmend ein.
"Der Neue Overbeck", Resultat eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes, stellt nicht nur eine Erfüllung des Wunsches nach einem 'Neuen Overbeck' dar. Er ist viel mehr, ersetzt er zugleich doch auch Emanuel Loewys Inschriften griechischer Bildhauer aus dem Jahr 1885 und lässt damit ein weiteres Desideratum obsolet werden: eine neue Sammlung der inschriftlichen Zeugnisse für Bildhauer. Auf gut 3500 Seiten, chronologisch verteilt auf fünf Bände [2], finden sich nahezu 4300 "antike Schriftquellen", literarische wie epigrafische (letztere erfreulicherweise oftmals mit Abbildungen), "zu den bildenden Künsten der Griechen" mit Übersetzung und philologischem bzw. epigrafischem sowie archäologischem Kommentar. Weit mehr als 1000 Bildhauer und Maler mit ihren Werken werden so in der nicht-archäologischen Überlieferung greifbar - angefangen bei den 'mythischen Künstlern', unter denen sich etwa auch die Kyklopen finden (DNO I, *1-*26 <1-10>), und endend mit einem gewissen Patrophilos: Dessen Signatur befand sich auf dem Pferd einer nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen zerstörten kolossalen Reiterstatue eines Kaisers Theodosius (vermutlich eher der zweite denn der erste dieses Namens), die von Justinian I. umgesetzt und umgewidmet worden war; bezeugt ist die Signatur durch eine Beschreibung dieses Monuments von Cyriacus von Ancona in einer erst unlängst bekanntgewordenen Florentiner Handschrift (DNO V, 4268 <662-663>). Innerhalb dieses zeitlichen Rahmens werden sowohl berühmte als auch wohl selbst dem Spezialisten kaum geläufige, oftmals nur einmal nachweisbare Künstler behandelt - so finden sich neben Phidias (DNO II, 841-1075 <119-323>), Polygnot (DNO II, 1464-1516 <671-733>), Praxiteles (DNO III, 1851-2031 <49-209>), Lysipp (DNO III, 2132-2258 <291-392>) und Skopas (DNO III, 2286-2335 <417-470>) etwa Alexenor von Naxos (DNO I, 656 <564>), der auf Rhodos tätige Damatrios (DNO IV, 3283 <490-491>), Hekaton aus Kryassos (DNO V, 4126 <513-514>) und ein in Augusta Emerita tätiger Demetrios (DNO V, 4243 <642>). Besonders hervorgehoben sei an dieser Stelle der messenische Bildhauer Damophon, dessen Wirken partiell durch Pausanias bekannt ist, dessen Leben aber insbesondere durch eine Vielzahl von inschriftlichen Zeugnissen eine eindrückliche und facettenreiche Kontur gewinnt (DNO IV, 3201-3228 <398-430>).
Eine umfassende Einleitung eröffnet den Nutzerinnen und Nutzern den Zugang zu diesem monumentalen Opus und legt dessen Aufbau und Strukturprinzipien eingehend dar (DNO I, XI-XXVIII). Dieser Einleitung in das Gesamtwerk und seine Konzeption folgt eine ebenso sinnvolle wie gewinnbringende 30-seitige Einführung in die Epigrafik (DNO I, XXIV-LIV), die an dieser Stelle besondere Erwähnung verdient. Denn den mit Inschriften weniger vertrauten Leserinnen und Lesern des "Neuen Overbecks" wird hier deren große Bedeutung (nicht nur) für die Beschäftigung mit Künstlern verdeutlicht; zugleich werden auch systematisch die wichtigsten epigrafischen Arbeitsinstrumente vorgestellt. Gut erschlossen ist dieses überaus gelungene, im wahrsten Sinne des Wortes synergetische Gemeinschaftswerk von Forschern verschiedener altertumswissenschaftlicher Fächer, durch eine Reihe von Indices und Statistiken (DNO V, 677-858), die in Teilen gleich erste Schritte zu durch den "Neuen Overbeck" (einfacher) möglichen Forschungsfragen aufzeigen - so etwa insbesondere die Indices zur "Herkunft der bildenden Künstler" (DNO V, 701-706) oder zur "Kunsttopographie" (DNO V, 707-732).
In ihrem Vorwort äußern die Herausgeber die Hoffnung, "dass der Neue Overbeck (DNO) für die nächsten 150 Jahre die Aufgabe übernehmen kann, die der alte so lange gehabt hat: ein zuverlässiges Nachschlagewerk und unentbehrliches Arbeitsinstrument nicht nur für Klassische Archäologen, Klassische Philologen und Epigrafiker, sondern für alle zu sein, die sich für die griechische Kunst der Antike interessieren." (DNO I, V) Dass diese Hoffnung in Erfüllung gehen wird, dafür haben die Herausgeber und die Mitarbeiter des "Neuen Overbeck" die Grundlage geschaffen. Es ist an den potentiellen Nutzerinnen und Nutzern, diese Hoffnung Realität werden zu lassen und den Schatz des "Neuen Overbecks" zu heben und nutzbar zu machen - sei es für 'klassische Fragestellungen' kunsthistorischer Natur, sei es für 'moderne' sozial- und kulturhistorische Arbeiten zu griechischen Malern und Bildhauern, sei es für Vorhaben, die im Zuge des 'spatial turn' an Bedeutung gewonnen haben und sich mit Aufstellungskontexten befassen: für derartige Unterfangen - und für viele andere Forschungsprojekte ganz unterschiedlicher Natur - ist der "Der Neue Overbeck" ein ebenso willkommener wie zuverlässiger neuer Fixpunkt. So kann man nur empfehlen: 'Tolle, lege !'
Anmerkungen:
[1] Wilhelm A. Dittenberger: Sylloge inscriptionum graecarum. Iterum edidit. Volumen prius, Lipsiae 1898, X, 644, 14 M. (Rez.), Göttingische Gelehrte Anzeigen 165 (1903), 769-798 (wiederabgedruckt in: G. Dobesch / G. Rehrenböck (Hgg.): Adolf Wilhelm. Kleine Schriften. Abteilung II: Abhandlungen und Beiträge zur griechischen Inschriftenkunde - Teil IV, Wien 2002, 267-296).
[2] Bd. I: Frühzeit, Archaik und Frühklassik (Bildhauer und Maler von den Anfängen bis zum 5. Jh. v.Chr.); Bd. II: Klassik (Bildhauer und Maler des 5. Jh.s v.Chr.); Bd. III: Spätklassik (Bildhauer des 4. Jh.s v.Chr.); Bd. IV: Spätklassik, Hellenismus (Maler des 4./3. Jh.s v.Chr., Bildhauer des 3./2. Jh.s v.Chr.); Bd. V: Späthellenismus, Kaiserzeit (Bildhauer und Maler vom 2. Jh. v.Chr. bis zum 5. Jh. n.Chr.).
Sascha Kansteiner / Klaus Hallof / Lauri Lehmann u.a. (Hgg.): Der Neue Overbeck. Die antiken Schriftquellen zu den bildenen Künsten der Griechen, Berlin: De Gruyter 2014, 5 Bde., C + 3967 S., ISBN 978-3-11-018233-0, EUR 399,00
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