Peter Cormacks Buch schließt eine Forschungslücke in der Arts & Crafts-Literatur und erweist auf eindringliche Art die lange Beschäftigung des Autors mit dem Thema der englischen Glasmalerei im späteren 19. und frühen 20. Jahrhundert. Cormack widmete sich bereits während seiner Tätigkeit an der William Morris Gallery in Walthamstow in mehreren Ausstellungen einzelnen Künstlern. Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung steht der Künstler Christopher Whall, der die Generation des frühen Arts & Crafts Movement und diejenige der Nachkriegszeit verbindet.
Cormacks Buch reagiert auf ein erstaunlich lang währendes Desiderat. Er selbst begründet dieses damit, dass die Glasmalerei sich noch zumeist in situ befindet und nicht durch den Kunsthandel gefördert oder in Museen durchweg präsent ist, wo sie Forschern und Betrachtern ins Auge fallen könnte. Dabei erscheine eigentlich gerade das Glasfenster als "das" Arts & Crafts-Thema, da es zwischen angewandter und freier Kunst vermittele: Es hat eine konkrete Funktion, ist dennoch durch Malerei bestimmt und in die Architektur eingefügt und darin für einen spezifischen Ort konzipiert. So war auch ein Haupttätigkeitsbereich von William Morris, dem "Vater" des Arts & Crafts Movement, und seiner "Firma" die Glasmalerei, wie Albert Charles Sewter in seinem zweibändigen, nach wie vor gültigem Werk über "The Stained Glass of William Morris and his Circle" von 1978/1979 dokumentiert. Weiterhin ist in der Glasmalerei die Verbindung von Entwurf und Herstellung äußerst eng, lässt sich in diesem Bereich besonders die zunehmende Bedeutung von Frauen und die Entwicklung lokaler Besonderheiten und Rückgriffe auf landestypische Traditionen wie in Schottland und Irland aufzeigen - alles Themen der Arts & Crafts.
Cormacks Buch ist chronologisch gegliedert, wobei Christopher Whall eine Art von rotem Faden bildet und die einzelnen Kapitel verbindet. Im ersten Kapitel beschäftigt sich Cormack mit den Grundlagen der Glasarbeiten des von ihm behandelten Zeitabschnitts. Er betrachtet die Bedeutung der Glasmalerei im Rahmen des Gothic Revival, denn durch die Vielzahl von Kirchenneubauten und -restaurierungen während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ergaben sich in diesem Bereich eine Fülle von Aufträgen sowohl für anglikanische als auch katholische Kirchen. Dabei gelingt es Cormack, wie durch das ganze Buch hindurch, immer sicher stilistische als auch inhaltliche Aspekte zu verbinden. Ihm geht es in seiner Darstellung nicht um eine komplette Schilderung und Dokumentation der einzelnen Malereien, sondern um das Aufzeigen von kennzeichnenden Elementen am Beispiel von Einzelwerken und Künstlerpersönlichkeiten. Durch diese Konzentration auf bestimmte Werke und durch die Sicherheit und Klarheit der Darstellung, das mühelose Zurückgreifen auf großes Wissen zum Sujet bleibt der Überblick gewahrt und erschließt sich für den Leser ein fundiertes und stimmiges Nacheinander. Cormack gelingt es, der Leitfigur Whall Entwicklungen und weitere Künstler zuzuordnen. So bietet sein Buch eine bemerkenswerte Mischung aus Stringenz und Detailliertheit. Ziel ist es, einen gelungenen Überblick über Künstlerpersönlichkeiten, Tendenzen, wichtige Werke, inhaltliche Anliegen zu geben, anstatt auf eine auf Vollständigkeit abzielende Gesamtschau aller Werke des behandelten Zeitabschnitts hinzuarbeiten.
Bereits im ersten Kapitel deutet sich sein Verfahren an: Stilistische Kennzeichen werden aufgezeigt und begründet, an Beispielen erläuternd belegt. Sie werden inhaltlich erklärt, indem auf historische Vorbilder und religiöse Anliegen eingegangen wird. Dieses wird verbunden mit Darlegungen zu Werkstattorganisation, Arbeitsweisen, die Zusammenarbeit von Künstlern und Handwerkern sowie technischen Entwicklungen. Immer wieder verweist Cormack auf die Auffassungen der einzelnen Künstler, schildert ihre Meinung zum Material, der sich daraus ergebenden künstlerischen Gestaltung, zu Zeichnung und Farbigkeit.
Ausgangspunkt der Darstellung bildet zum einem das historischen Vorbildern verpflichtete Glas des Gothic Revival, zum anderen die durch mittelalterliche Inspiration und die Präraffaeliten geprägten Arbeiten von "Morris & Co." mit dem Hauptkünstler Edward Burne-Jones. In Hinblick auf Morris und Burne-Jones schildert Cormack, sicher Sewters Darstellungen zusammenfassend, die Entwicklung über die Anregungen durch die Kunst der italienischen Renaissance zu denjenigen durch byzantinische und frühchristliche Mosaiken sowie die Betonung der juwelenartigen Leuchtkraft des Glases und der überlegten, sinnvollen Einfügung der Bleiruten. Bereits von den Arts & Crafts-Vertretern wurde kritisch angemerkt, dass Morris kein eigenes Glas produziert, sondern hierfür mit Firmen wie James Powell & Sons zusammengearbeitet habe. Wohl erst spät habe Morris überlegt, eine eigene Glaswerkstatt zu gründen.
Das zweite Kapitell ist dann Christopher Whall gewidmet und stellt diesen zunächst kurz mit einem auf seinem künstlerischen Werdegang fokussierten Lebenslauf vor. Dieses Kapitel unterscheidet sich von den folgenden in der Ausführlichkeit, die einem Künstler und seinem Werk gewidmet ist, was aber durch die Bedeutung Whalls für seine Zeitgenossen und die nachfolgende Generation durchaus gerechtfertigt ist. Besonders wird auch auf Whalls publizierten Vortrag von 1891 eingegangen, in dem er einflussreich die Qualitäten eines Glaskünstlers formulierte. Cormack widmet sich auch Whalls Arbeitsweise und seiner stilistischen Verbundenheit zu Burne-Jones' Werk.
Es folgt ein Kapitell zum Arts & Crafts-Glas der 1890er-Jahre, in dem nun Whall in seine Zeit eingestellt und weitere zeitgleiche Glaskünstler vorgestellt werden. Als Meilenstein wird die erste Ausstellung der Arts & Crafts Exhibition Society aufgeführt, auf der Glas von Whall, Burne-Jones, Crane, Image und Holiday gezeigt und damit zugleich ein Überblick über die zeitgenössischen Tendenzen gegeben wurde, wenngleich zumeist anhand von Entwürfen. Nach Vorstellung der unterschiedlichen Künstler schließt Cormack mit einer Zusammenfassung, in der er auf die Gemeinsamkeiten verweist, die er in der Auseinandersetzung mit dem Material und der Zugrundelegung der materialspezifischen Eigenschaften erkennt.
Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit den Schulen, Werkstätten und der wachsenden Bedeutung von Glaskünstlerinnen. Auch in diesem Kapitel steht Whall im Mittelpunkt - in seiner Bedeutung als Lehrer und als Vorbild für die jüngere Generation. Cormack verweist auf die Konzentration Whalls auf das Medium Glas, dem er sich allein und nicht neben anderen Bereichen widmet, auf seine technischen Neuerungen und Experimente und das Bestreben, das Material in der Handhabung zu betonen, wobei den Bleiruten eine expressive oder suggestive Funktion zukomme. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Kapitel zudem Whalls 1905 publiziertes "Stained Glass Work", das auch für die nachfolgende Generation relevant blieb und in dem er das Naturstudium sowie die Schulung am konkreten architektonischen Umfeld betont. Whall bildete in seiner Werkstatt aus und beschäftigte seine Lehrlinge anschließend als Assistenten, wobei sie auch die Möglichkeit hatten, die Werkstatt für eigene Projekte zu nutzen.
Im fünften Kapitel zeigt Cormack die Situation und Entwicklung im Bereich der Glasmalerei in England - außerhalb Londons - sowie in Irland und Schottland auf; hier verfolgt er das Aufgreifen von Whalls Ideen, der gerade in Dublin durch seine Lehrtätigkeit einflussreich war. Ein weiteres Zentrum war Manchester durch die Zahl von wichtigen Firmen, doch hier entwickelte sich nach Cormack im Unterschied zu Dublin, wo das Ziel in der Entwicklung eines spezifisch irischen Stils lag, kein klar erkennbarer verbindender stilistischer Charakter, der die einzelnen Werkstätten zusammenhalte.
Im sechsten Kapitel stellt Cormack einzelne wichtige Projekte vor. Hier geht er nun ausführlicher auf Werke ein als in seinen vorangegangen Darlegungen, wo der Bezug auf das Werk oftmals weitgehend exemplarisch-belegenden Charakter hat.
Die letzten drei Kapitel besitzen dann wieder eine Überblicksfunktion und verfolgen die weitere Entwicklung der Glasmalerei, wobei das siebte Kapitel der Glasmalerei in Amerika gewidmet ist und hier die Anregungen durch das Arts & Crafts Movement verfolgt und mit anderen zeitgleichen Tendenzen verglichen sowie Whalls Einfluss in den USA nachgegangen wird. Im achten Kapitel betrachtet Cormack die zweite Generation von Arts & Crafts-Künstlern und ihre Arbeiten im Zeitraum von 1900 bis 1914, bevor er mit dem neunten, der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen gewidmeten Kapitel schließt. Hier gibt er zugleich einen sehr knappen Ausblick auf die Tendenzen der Nachkriegszeit, in denen er die Anliegen des Arts & Crafts Movement mit der Betonung auf der Leuchtkraft des Glases beibehalten sieht, wenn auch nun die figürlich-szenische Darstellung durch abstrakte Kompositionen ersetzt wird.
Peter Cormacks reich und sinnvoll mit Abbildungen der gesamten Fenster und einzelner Details illustriertes Buch gibt einen gelungenen Überblick über die Entwicklung der englischen Glasmalerei ab 1890 und ihrer Protagonisten mit Christopher Whall als Zentrum und Leitfigur und bildet damit eine überzeugende Fortsetzung von Martin Harrisons "Victorian Glass" von 1980. Auf bemerkenswerte Weise gelingt dem Autor die Kombination von Überblick und detaillierter Einzeldarstellung, womit er eine Forschungslücke schließt und ein gültiges Gerüst für künftige Einzelforschungen bietet.
Peter Cormack: Arts & Crafts. Stained Glass, New Haven / London: Yale University Press 2015, X + 354 S., 200 Farb-, 50 s/w-Abb., ISBN 978-0-300-20970-9, USD 75,00
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