Die Ölpreiskrise von 1973 als überraschendes, bahnbrechendes Ereignis, das die Zeiten des Wirtschaftswachstums schlagartig beendete und das "Ende der Zuversicht" [1] ankündigte - mit dieser Erzählung, die sich zwar nicht in ihrer Absolutheit aber dennoch in Ansätzen in nahezu jeder historischen Studie über die 1970er-Jahre finden lässt, räumt Rüdiger Graf auf. In seiner 2014 erschienenen Monografie "Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren" entwickelt Graf neue Perspektiven auf die Krise. Durch den diskursanalytischen Zugang gelingt ihm eine differenzierte Darstellung der Wahrnehmung und politischen Bewältigung der Transformation des Ölmarkts jenseits der bekannten Ereignisgeschichte.
Die Studie untersucht die Energiepolitiken unter dem Aspekt der Souveränitätsbehauptung. Erdöl war in den 1960er-Jahren zum wichtigsten Primärenergieträger aufgestiegen und damit unabdingbar für die Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme der industrialisierten Länder. Die Preiserhöhungen und Produktionskürzungen 1973 durch die OPEC [2] stellten daher, so Grafs These, eine Herausforderung für die Souveränität der westlichen Demokratien dar. Auf einer breiten Quellenbasis erarbeitet Graf nicht nur die tatsächliche Strategie- und Politikgestaltung, sondern auch deren Ursprünge, Hintergründe und Diskurse. Dabei gelingt es ihm weitgehend auch, die globale Dimension des Ölmarkts abzubilden, indem er nicht nur länderübergreifend vergleicht, sondern auch die Rolle internationaler Konferenzen und Organisationen in den Fokus nimmt.
Nachdem im ersten inhaltlichen Kapitel eine Bestandsaufnahme der Welt des Öls, der Marktstrukturen und der Diskurse um die Verfügbarkeit von Öl erfolgt, widmet sich Graf im dritten Kapitel der Energiepolitik vor 1973. Hier wird deutlich, dass die USA und Westeuropa bereits vor der Krise die gesamtwirtschaftliche Bedeutung von Öl erkannten und insbesondere die europäischen Länder ihre Abhängigkeit von Ölimporten aus dem Mittleren und Nahen Osten sowie Nordafrika realisierten. Dies äußerte sich in der Weiterentwicklung nationaler Energiepolitiken, aber auch in konkreten Plänen im Rahmen der OECD und EG über kooperative Sicherungssysteme bei Versorgungsengpässen.
Im vierten Kapitel geht es um Öl als politisches Druckmittel. Grafs Recherchen ergeben, dass die Verhängung der Produktionskürzungen und des Embargos durch die OAPEC im Herbst 1973 keineswegs überraschend waren. Insbesondere in den USA wurde sowohl in politischen Kreisen als auch in der Öffentlichkeit vor der "arabischen Ölwaffe" gewarnt. Darüber hinaus kann Graf eindrücklich nachweisen, dass das Embargo zwar allgemeine Unsicherheit schuf, aber von allen beteiligen Akteuren instrumentalisiert und interpretiert wurde. So versuchten sowohl die arabischen Staaten als auch die USA, die Deutungshoheit über das Embargo und dessen Auslegung zu erhalten, um wiederum ihre Souveränität zu demonstrieren.
Kapitel fünf und sechs bilden den Hauptanalyseteil der Studie und thematisieren die Wahrnehmung und politische Bewältigung der Energiekrise in den USA und der Bundesrepublik Deutschland. Bereits die Titelvergabe der beiden Kapitel (5. Souveränitätspolitik in der Energiekrise - die Vereinigten Staaten; 6. Die Bundesrepublik Deutschland in der Welt des Öls) deutet an, dass die USA in ihrer Souveränität und Position in der Welt durch die Krise mehr herausgefordert wurden als die BRD. Dies leuchtet zunächst wenig ein, da Westdeutschland nahezu vollständig abhängig von Ölimporten war, während die USA selbst eines der größten Ölproduzentenländer waren. Außenpolitisch war allerdings die Vormachtstellung der USA durch das Vollembargo stärker in Frage gestellt. Kissinger, der zwar wenig von Öl, dafür aber umso mehr von Machtpolitik verstand, führte zum souveränitätspolitischen Erfolg. Innenpolitisch standen die USA nicht nur wegen Versorgungsengpässen, die schon vor 1973 einsetzten, sondern vor allem wegen der Watergate-Affäre vor einer Vertrauenskrise. Nixons Versuche, durch den Ausbau der Energiepolitik und das "Project Independence" seine politische Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, scheiterten weitgehend.
Auch für die BRD stellt Graf eine Stärkung der Energiepolitik schon vor 1973 heraus. Die Krise selbst beschleunigte zwar die energiepolitischen Maßnahmen, allerdings nicht in demselben Ausmaß wie in den USA - so wurde beispielsweise keine neue Behörde eingerichtet. Durch die verhängten Produktionskürzungen und das Embargo stand auch die Rolle Westdeutschlands in der Welt auf dem Prüfstand. Hier zeigt Graf auf der Basis sehr detaillierter Quellen die Gratwanderung westdeutscher Politiker zwischen Verantwortungsbewusstsein gegenüber Israel und starken Abhängigkeiten von Öl aus dem Mittleren und Nahen Osten.
Eine große Gemeinsamkeit der Reaktionen in den USA und der Bundesrepublik, die Graf herausarbeitet, betrifft das Wissen über den Ölmarkt. Um ihre Handlungsfähigkeit in der Krise noch glaubwürdiger zu machen, versuchten sowohl die Bundesrepublik als auch die USA, ihre Politikgestaltung mit einer breiten wissenschaftlichen Expertise zu legitimieren. Dabei wurde allerdings zunehmend deutlich, dass einerseits die Datengrundlage über den Weltölmarkt fehlte bzw. über diese nur die großen Ölkonzerne verfügten und andererseits die wissenschaftlichen Prognosen über Verfügbarkeiten von Öl und Marktdaten stark divergierten. Das "Petroknowledge" trug daher nur bedingt zur Souveränitätsbehauptung bei.
Die umfassende Erarbeitung der Geschichte der Energiepolitik in den USA und Westeuropa haben durchweg einen hohen Erkenntniswert, allerdings liegt die eigentliche Stärke der Arbeit im siebten Kapitel. Hier gelingt es Graf, Öl als globales Phänomen zu fassen. Durch die genaue Analyse verschiedener Ölkonferenzen wie etwa die Washingtoner Energiekonferenz 1974 werden die weltweiten Interdependenzen deutlich. Ein Ergebnis ist, dass die ungleiche Verteilung von Ressourcen sowohl die internationale Zusammenarbeit als auch die Etablierung länderübergreifender Organisationen vorangetrieben hat, wie das Beispiel der OPEC und der Internationalen Energieagentur (IEA) zeigt.
Insgesamt ist Graf mit dieser Arbeit der überzeugende Beweis gelungen, dass die Deutung der Ölkrise in der bisherigen Geschichtsschreibung zu kurz greift. Dies zeigt Graf anhand der Analyse längerfristiger Prozesse der Energiepolitik. Durch die rekonstruierten Diskurse und deren Ursprünge in Politik, Wissenschaft und Medien liefert das Buch außerdem Erklärungen für die bestehenden Deutungsmuster über die 1970er-Jahre. Grafs Arbeit überzeugt außerdem durch die Dichte und Vielfalt seiner Quellen. Ein Manko der Arbeit ist, dass Graf die wirtschaftliche Perspektive der Ölkrise weitgehend ungeachtet lässt. Zwar betont er vermehrt die ökonomische Bedeutung des Öls für die westlichen Industrienationen, vernachlässigt aber Marktstrukturen und auch zentrale Akteure auf dem Markt. Seine Betrachtung der Politik- und Diskurgeschichte lässt den Ölmarkt von Politikern dominiert erscheinen und berücksichtigt nicht, dass es am Ende die großen Ölkonzerne waren, die trotz Energiepolitik, Embargo und OPEC das Öl explorierten, verarbeiteten, transportierten und verkauften und damit auch machtpolitisch ein bedeutender Akteur auf dem internationalen Parkett des Öls waren. [3]
Anmerkungen:
[1] Konrad H. Jarausch (Hg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008.
[2] OPEC = Organization of Oil Exporting Countries; Die Preiserhöhungen wurden von der OPEC durchgesetzt. Das Embargo und die Produktionskürzungen im Rahmen des Oktoberkrieges 1973 wurden von der Organization of Arab Oil Exporting Countries (OAPEC) verhängt.
[3] Francesco Petrini: Eight Squeezed Sisters. The Oil Majors and the Coming of the 1973 energy crisis, in: H-Energy Network, 2013, https://networks.h-net.org/eight-squeezed-sisters-oil-majors-and-coming-1973-shock-francesco-petrini-h-energy-1973-energy, 19.10.2015.
Rüdiger Graf: Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepoltiik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 103), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2014, XII + 442 S., ISBN 978-3-11-034707-4, EUR 54,95
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