sehepunkte 15 (2015), Nr. 12

Gilbert Achcar: The Arabs and the Holocaust

Das Werk "The Arabs and the Holocaust: The Arab-Israeli War of Narratives" von Gilbert Achcar, wurde bereits 2010 veröffentlicht - ein Jahr nach dem französischen Original - und widmet sich den arabischen Reaktionen auf den Nationalsozialismus und die Erinnerung an seine Verbrechen von der Machtergreifung Hitlers bis heute. Das Werk erregte große Aufmerksamkeit in der akademischen Forschung wie auch einer breiteren Öffentlichkeit. Bis dato wurde es in vier Sprachen aufgelegt [1] und in einer Vielzahl wichtiger Publikationen und von einigen zum Teil sehr renommierten Forscherinnen und Forschern besprochen. [2]

Das Interesse an dem Werk des Professors an der School of Oriental and African Studies in London kann nicht verwundern, widmet es sich doch einem ebenso interessanten wie sensiblen Thema und ist in der Breite seines Untersuchungszeitraums einzigartig. Denn während die Reaktionen der arabischen Zeitgenoss/innen Hitlers trotz einiger Defizite mittlerweile verhältnismäßig gut untersucht sind, ist der arabische Umgang mit der Erinnerung an die Shoah nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch weitgehend ein Desiderat der Forschung. Nur ein Werk der israelischen Forscherinnen und Forscher Meir Litvak und Esther Webman widmet sich diesem Zeitraum auf der Basis eines vergleichbar großen Quellenkorpus.[3]

Das über 350 Seiten starke Werk Achcars ist stringent und übersichtlich gegliedert. Im ersten Teil widmet er sich der Zeit bis 1945 und untersucht in gesonderten Kapiteln die Reaktionen der unterschiedlichen weltanschaulichen Gruppierungen in der arabischen Welt. Die Zeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute, die im zweiten Teil Thema ist, unterteilt er in die Zeit Nassers, die Zeit der PLO und die Zeit des islamistischen Widerstands. Achcar offenbart dabei ein beeindruckendes Wissen der ideologischen Debatten des zwanzigsten Jahrhunderts in der arabischen Welt und bemüht sich sehr, Generalisierungen der heterogenen arabischen Debatten entgegenzuwirken.

Im ersten Teil des Buches stellt er die arabische NS-Perzeption auf der Basis eigener Forschung und einer soliden Kenntnis des Forschungsstands gut und übersichtlich dar. Dabei werden sowohl liberale und sozialistische Gegner von Nationalsozialismus und Autoritarismus als auch Sympathisant/innen und ideologische Verwandte des Nationalsozialismus beleuchtet. Besonders gründlich widmet sich Achcar dem Pionier des modernen Islamismus und des islamisierten Antisemitismus, Rashid Rida, sowie dem Einfluss des Muftis von Jerusalem, Amin al-Husayni, und dessen Kollaboration mit dem NS-Regime.

Während im ersten Teil Relativierungen und Apologien problematischer Positionen arabischer Individuen und Gruppen selten sind, erscheinen solche im zweiten Teil leider in großer Regelmäßigkeit. Dies liegt ganz offensichtlich nicht in einem Defizit an Wissen oder Quellen begründet, sondern in Achcars eigenem antizionistischen Ressentiment. Anstatt den von ihm diagnostizierten "Krieg der Narrative" unvoreingenommen zu beschreiben oder zu analysieren, agiert Achcar selbst als Kombattant. Mithilfe von Relativierungen und Doppelstandards zeichnet er ein Bild, demzufolge die arabische Seite stets nur auf Provokationen der israelischen Politik und die vermeintliche israelische Instrumentalisierung des Holocaustgedenkens reagierte.

Dies zeigt sich bereits in der Polemik, die Achcar nicht nur gegen Autorinnen und Autoren, die in akademischen Debatten häufig zurecht oder zu unrecht in die Kritik genommen werden (168-173), sondern auch gegen weithin anerkannte und renommierte Forschende wie Yehoshafat Harkabi, Bernard Lewis, Meir Litvak und Esther Webmann richtet (165-173, 177f.). Es ist jedoch keine allzu große Vertrautheit mit dem Forschungsstand nötig, um hinter Aussagen wie der, dass israelische Arbeiten zur arabischen Haltung gegenüber dem Holocaust polemisch seien, das antizionistische Ressentiment Achcars zu erkennen (177). Noch offensichtlicher zeigt sich dies in seinem Versuch, die Ergebnisse einer Studie zu palästinensischen Schulbüchern dadurch zu entkräften, dass er dort aufgeführten Beispielen anti-israelischer Propaganda bescheinigt, die Realität abzubilden (247f.). Die in großen Teilen völlig haltlosen Vorwürfe Achcars gegen einen Großteil der Forschungsarbeiten umfassen in erster Linie eine vermeintliche Homogenisierung der arabischen Positionen und Generalisierung der arabischen Sympathien für den Nationalsozialismus sowie die Behauptung, in den Arbeiten werde in nicht ausreichender Weise zwischen Antisemitismus und Antizionismus, zwischen Provokation und Überzeugung und zwischen dem Ressentiment der Überlegenen und dem der Unterdrückten differenziert.

Achcars eigene Versuche, antisemitische Aussagen arabischer Politiker und Intellektueller zu kontextualisieren, führen jedoch allzu oft zur Relativierung selbiger als Ausdruck von Frustration und kultureller Rückständigkeit (256) und damit wiederum zu einer Homogenisierung und Infantilisierung der Araber. Sein Versuch, zwischen einem rein irrationalen westlichen Antisemitismus und einem irrational-antisemitisch artikulierten, aber im Kern rational-antizionistischen Ressentiment der Araber zu differenzieren (256), ist ebenso wenig überzeugend wie sein Versuch, eine antizionistische Lesart der Protokolle der Weisen von Zion von einer antisemitischen zu unterscheiden (207f.). Ernst genommen und ohne Relativierungen verurteilt wird der arabische Antisemitismus im Werk Achcars nur, wenn er aus dem islamistischen Lager oder von vermeintlichen Freunden Israels kommt (284f).

Die ideologische Agenda Achcars scheint im gesamten Buch durch, wird aber erst im zweiten Teil zu einem Erkenntnis leitenden, beziehungsweise sie verstellenden Motiv. Trotz allem lassen sich auch im zweiten Teil Stellen finden, in denen wichtige Erkenntnisse differenziert aufbereitet werden - schließlich ist Achcar ein Kenner der Materie und wertet einen großen Quellenkorpus aus. So ist es Achcars anzurechnen, dass er die Breite der in den arabischen Debatten vertretenen Positionen darstellt, wichtige Einflüsse, Protagonistinnen und Protagonisten sowie Zäsuren der Erinnerungsdiskurse herausarbeitet und diese in die ideologischen Entwicklungen ihrer Zeit einbettet. In dieser Hinsicht ist dieser Teil des Buches eine gute Ergänzung zu der erwähnten hervorragenden Publikation von Litvak und Webmann.

Insgesamt betrachtet ist das Buches aufgrund seiner Einseitigkeit und Polemik jedoch ein Ärgernis und kaum geeignet, im arabisch-israelischen Konflikt oder auch nur in den Forschungsdebatten zu mehr gegenseitigem Verständnis beizutragen.


Anmerkungen:

[1] Die arabische Ausgabe erschien 2010 in Kairo und Beirut, die deutsche Ausgabe 2012 in Hamburg.

[2] Eine Darstellung der Rezeption des Werkes würde den Rahmen sprengen. Deshalb sei hier nur beispielhaft auf die Rezension von Jeffrey Herf auf der Online-Präsenz von The New Republic verwiesen (https://newrepublic.com/article/78714/not-in-moderation)

[3] Meir Litvak / Esther Webman: From Empathy to Denial. Arab Responses to the Holocaust, London 2009.

Rezension über:

Gilbert Achcar: The Arabs and the Holocaust. The Arabs and the Holocaust: The Arab-Israeli War of Narratives, New York 2010, 386 S., ISBN 978-0-8050-8954-7

Rezension von:
Frank Schellenberg
Bonn
Empfohlene Zitierweise:
Frank Schellenberg: Rezension von: Gilbert Achcar: The Arabs and the Holocaust. The Arabs and the Holocaust: The Arab-Israeli War of Narratives, New York 2010, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 12 [15.12.2015], URL: https://www.sehepunkte.de/2015/12/28276.html


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