In der Perspektive der modernen Forschung korrespondiert der Grad der Ausübung von Gewalt mit der Existenz staatlicher Strukturen. Wo diese als Regulative fehlen, zerfasert das Gewaltmonopol und die Ausübung von körperlichem Zwang wird zur Handlungsoption für all jene, die darauf zurückgreifen können. Unter diesen Vorzeichen lässt sich der Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter mit der Transformation weiter Teile des Imperium Romanum in verschiedene Nachfolgereiche und der in diesen Prozess eingeschlossenen Fragmentierung von Staatlichkeit als Phase deuten, in deren Verlauf Gewalt und ihr Gebrauch aus dem kanalisierenden Bett der römischen Ordnung hervortrat und zum verbreiteten, mithin allgegenwärtigen Phänomen wurde. Konfrontiert mit den Schrecknissen im merowingerzeitlichen Gallien, die etwa Gregor von Tours notierte, erkannte die Forschung dementsprechend in den Handlungen der Akteure einen Zustand der "Verrohung". Mit der Bezeichnung der Verhältnisse in diesem Zeitraum als "archaisch" wies sie dem darin verbreiteten Gewaltphänomen einen fernen Urgrund zu, in den die Menschen nach dem Ende des römischen Reiches wieder zurückgefallen schienen. In dieser Perspektive entzog sie Gewalt und ihre Ausübung weitgehend einer präzisen Einordnung in den historischen Kontext.
Mit der vorliegenden Darstellung, einer Regensburger Dissertation von 2012/13, hebt sich die Autorin von diesen Erklärungsansätzen ab. Ziel ihres Buches ist es, das Phänomen der Gewalt in der Merowingerzeit des 7. Jahrhunderts auf der Basis zeitgenössischer Äußerungen und vor dem Hintergrund der lebensweltlichen Erfahrungen der Autoren und Leser zu beleuchten. Zu diesem Zweck greift sie einerseits auf hagiographische Werke des 7. und 8. Jahrhunderts zurück, in denen die Ausübung körperlicher Gewalt - und um diese geht es ihr namentlich (22) - teils ausführlich beschrieben wird. Andererseits zieht sie auch moderne soziologische Theorien zur Entstehung und Kategorisierung von Gewalt heran, die gemeinsam mit einem narratologischen Ansatz die Funktion von Gewalt in den zeitgenössischen Darstellungen und ihren Zusammenhang mit der Lebenswelt des Publikums erhellen sollen (38, 59, vgl. auch 64 Anm. 37).
Nach einer Hinführung zum Thema im ersten Kapitel (7-11), in dem sie Untersuchungsgegenstand und Überlieferungssituation knapp umreißt, skizziert die Autorin im nächsten Abschnitt zunächst Interessen und Stand der aktuellen Forschung zur Merowingerzeit im Allgemeinen und zur zeitgenössischen Hagiographie im Besonderen (12-18), ehe sie im dritten Kapitel einen stark gerafften Überblick über soziologische Modelle zur Deutung von Gewalt und die mediävistische Gewaltforschung bietet (19-21). Daran anknüpfend stellt sie im vierten Kapitel den oben umrissenen methodischen Zugang zur Problematik der Gewalt, ihrer Beschreibung in den hagiographischen Texten und ihrer modernen Kategorisierung dar (22-42). Dabei begründet sie die Auswahl des Untersuchungszeitraums mit der großen Dichte von Heiligenviten und Passiones, die im 7. Jahrhundert entstanden und die körperliche Gewalt im besonderen Maße thematisieren (auch 43). Zugleich entwickelt sie darin das weitere analytische Vorgehen, indem sie einerseits für ihre narratologische Annäherung an die Darstellung von Gewalt auf der Basis der Forschungen zur réécriture der hagiographischen Schriften deren Publikumsbezug aufgreift, andererseits aber auch zwischen der Anwendung von tötender und nicht-tötender körperlicher Gewalt differenzieren möchte, um ihre Untersuchung zu strukturieren. Es folgt mit dem fünften Kapitel allerdings zunächst ein Abschnitt, in dem die Quellen von der Vita Columbani bis zu den Passiones des Bischofs Leodegar ausführlicher vorgestellt und hinsichtlich ihres historischen Kontexts, ihrer Entstehungszeit und Autorschaft eingeordnet werden (43-58).
Das anschließende sechste Kapitel wendet sich der Darstellung von Gewalt in den Texten zu (59-136). Darin skizziert die Verfasserin das rhetorische Mittel der amplificatio als ein Instrument zur Dramatisierung des Geschehens, mit dem insbesondere durch die Einfügung retardierender Momente ein Spannungsbogen aufgebaut werden konnte. Dem Motiv der Nacht als Symbol für Gottesferne, Heimlichkeit und Verbrechen schenkt sie ebenfalls Aufmerksamkeit. Immer wieder kommt sie zudem in diesem Abschnitt auf Topoi, Stereotype und literarische Vorlagen zurück, auch und gerade bei der Analyse von Charakterbildern von Bösewichten wie Brunichilde, Dagobert, Erchinoald oder Ebroin in den Quellen, deren Todesarten sie gesondert in den Blick nimmt. Überlegungen zum Zweck von Emotionen in den Gewaltdarstellungen schließen sich an: danach geben "inszenierte Gefühle" wie etwa Neid Auskunft über die Motive der Ausübung von Gewalt, während Emotionen in Verbindung mit der Schilderung des Gewaltakts dramatisieren, aber auch das Publikum zu einer Reduzierung des eigenen affektgesteuerten Handelns bewegen sollen, wie es die Heiligen in den Texten vorgelebt hätten.
Die "Formen und Funktionen von Gewalt" stehen im Zentrum des folgenden siebten Kapitels (137-230). Der zuvor entworfenen Gliederung entsprechend behandelt die Verfasserin zunächst die nicht-tötende Gewalt, insbesondere die "raptiven", sexuell konnotierten Formen der Zwangsausübung gegenüber Frauen, ehe sie sich mit der tötenden Gewalt in Krieg und Frieden befasst. Umfangreich gerät in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung mit der Frage des Martyriums: die Heiligen seien durch die Darstellung ihrer Tode zu Märtyrern stilisiert worden, auch wenn dies angesichts der politischen Verwicklungen der einzelnen Protagonisten und ihres natürlichen Ablebens Anpassungen im jeweiligen Text erforderlich machte (230). Das Phänomen der symbolischen Gewalt, mit der den zeitgenössischen Betrachtern als den Adressaten gewissermaßen außerhalb des Textes eine Botschaft übermittelt werden sollte, wird in einem Unterkapitel anhand der Beispiele Brunichilde und Leodegar behandelt. Relativ kurz geht die Autorin im anschließenden achten Kapitel dann auf den Heiligen als "Gewaltakteur" ein, wobei sie unter anderem die Rolle von Sachbeschädigung, Racheandrohung oder Strafen im mönchischen Regelwerk thematisiert (231-239). Insbesondere im letztgenannten Fall erschien der Gebrauch körperlicher Gewalt den Hagiographen legitim; darüber hinaus, so stellt die Autorin fest, träten Heilige in den ihnen gewidmeten Schriften insgesamt "so gut wie nie als körperlicher Gewalttäter in Erscheinung" (234). Das neunte Kapitel fasst die Ergebnisse, den engen Bezug der Darstellung von Gewalt zur Lebenswelt des Publikums, die Stilisierung der Heiligen zu Märtyrern und die an die Vielzahl von Situationen geknüpften unterschiedlichen Funktionen und damit Kategorien von Gewalt vor dem Hintergrund des Gebrauchs der in den Texten gespiegelten Heiligkeit als Legitimitätsressource für die Zeitgenossen zusammen (240-246). Eine Bibliographie (247-270) und ein Register, das Personen und Orte, aber auch Sachen verzeichnet (271-281), beschließen den insgesamt gut redigierten Band.
Das Buch besticht durch die quellennahe Behandlung des Themas: so werden die einschlägigen Passagen aus den hagiographischen Schriften häufig im Text zitiert, um dem Leser die Beschreibung von Gewalt anschaulich vor Augen zu führen. Die Autorin bietet durchaus bemerkenswerte Einsichten. Dazu zählt beispielsweise das Auftreten von "Äthiopiern" in den Texten als Symbol für drohendes Ungemach (154-157 und 171) oder die Feststellung, dass ab der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts "kriegerische Gewalt immer häufiger Thema in der Hagiographie" sei (229). Allerdings wird die letztgenannte Erkenntnis leider nicht weiter vertieft. So wird die Frage nach dem konkreten Ort der Texte im 7. Jahrhundert, mithin eine entwicklungsgeschichtliche Perspektive, nahezu vollständig ausgeblendet: schlug sich die zunehmende Zerrüttung der Verhältnisse in den sich intensivierenden kriegerischen Auseinandersetzungen im Merowingerreich in den 670er und 680er Jahren in den Texten nieder? Hierüber erfährt man leider nur wenig, und auch das Publikum, das als Bezugspunkt der hagiographischen Darstellungen genannt wird, bleibt weitgehend konturlos. Der Komplexität des Phänomens Gewalt und dem damit verbundenen Bedürfnis nach Kategorisierung geschuldet ist die unterschiedliche Benennung ihrer Erscheinungsformen im Buch. So finden sich neben Verweisen auf "raptive Gewalt" oder "symbolische Gewalt" auch Klassifizierungen wie "monastische Gewalt" (als Strafgewalt im Kloster, 233), "legitime" und "positive Gewalt" (239) oder "produktive Gewalt" (als Gewalt, die Märtyrer schafft, 237). Der Leser fühlt sich von dieser terminologischen Vielfalt allerdings bisweilen überfordert, weil hier unterschiedliche Ebenen, die Formen der Gewalt selbst, deren Anwendung in bestimmten "Gewalträumen" und die Deutung derselben durch die Zeitgenossen, nebeneinander präsentiert werden. Insgesamt aber hat die Autorin mit ihrer Darstellung einen wertvollen Überblick über das Phänomen der Gewalt im 7. Jahrhundert und seiner Spiegelung in den hagiographischen Texten der Zeit geboten, den man bei der Beschäftigung mit der Merowingerzeit mit Gewinn heranziehen wird.
Jennifer Vanessa Dobschenzki: Von Opfern und Tätern. Gewalt im Spiegel der merowingischen Hagiographie des 7. Jahrhunderts (= Wege zur Geschichtswissenschaft), Stuttgart: W. Kohlhammer 2015, 281 S., ISBN 978-3-17-028514-9, EUR 49,99
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