Seit dem Einsetzen der weltweiten Wirtschaftskrise im Jahr 2008 ist die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus auch wieder stärker in den Fokus der Geschichtswissenschaft geraten. Ein Beispiel für das erneuerte Interesse ist dieser von dem Politikwissenschaftler Olaf Asbach herausgegebene Band, in dessen Zentrum mit der These vom doux commerce ein klassisches Schlagwort der Marktapologetik steht. Der Gegenwartsbezug und die Absicht, neben der Aufarbeitung eines historischen Problems zugleich einen Beitrag zur aktuellen Debatte über die Auswirkungen kapitalistischer Wirtschaftsweisen zu leisten, werden von Asbach in seiner Einleitung explizit betont. Denn die Auseinandersetzung mit den historischen Positionen und Debatten über das Verhältnis von Staat, kapitalistischer Ökonomie und trans- sowie internationaler Beziehungen bildet für ihn auch einen "notwendigen Beitrag zur Aufklärung über Verhältnisse, Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsweisen, die die Gegenwart prägen" (15).
Wie der Herausgeber in seiner Einleitung darlegt, besagt die These vom doux commerce in ihrem Kern, "dass mit dem auf Eigeninteresse basierenden Austausch auf freien Märkten ein Verflechtungszusammenhang und eine Entwicklungsdynamik entsteht, die gleichsam naturwüchsig Wohlstand, Freiheit und Frieden innerhalb und zwischen Gesellschaften hervorbringt und beständig steigert" (21). In diesem Sinne hat Bundespräsident Joachim Gauck noch auf der Münchener Sicherheitskonferenz von 2014 behauptet, dass sich im außenpolitischen Vokabular "Freihandel auf Frieden" und "Warenaustausch auf Wohlstand" reime. Ausgangslage für den Band ist jedoch ein anderer, kritischerer Befund. Wie Asbach mehrfach betont, wurde und wird die Idee vom doux commerce nämlich nur zu oft durch eine historische Realität falsifiziert, die vielmehr von harten Auseinandersetzungen und ökonomischen Verteilungskämpfen geprägt ist (14f., 25, 32). Es ist daher folgerichtig, dass der Band weniger die Entwicklung der Idee vom doux commerce nachzeichnet, als vielmehr die kritische Debatte beleuchtet, die europäische Intellektuelle bereits im 18. Jahrhundert über die Auswirkungen des Kapitalismus geführt haben.
Dem Leser wird ein breites Panorama verschiedener Standpunkte geboten. Eine ambivalente Position nimmt der Abbé de Saint-Pierre (Beitrag von Olaf Asbach) ein, der zwar durchaus davon ausging, dass das individuelle Streben nach dem eigenen Vorteil großen Nutzen für die Gesellschaft haben konnte, dies aber nur dann für möglich hielt, wenn seine dysfunktionalen Tendenzen rechtlich und institutionell eingehegt wurden. Dezidiert kritisch äußerte sich hingegen Rousseau, der den doux commerce laut Céline Spector für eine "bloße Illusion" (133) hielt, da der Handel eben nicht zu gleichen Vorteilen für alle Beteiligten und deshalb auch zum Krieg führe. Auch in der Sicht der französischen Revolutionäre war der doux commerce "beständig mit seinem Gegenteil konfrontiert, d.h. dem 'tyrannischen' oder 'despotischen' Handel" (230), wie Marc Bélissa zeigt. Den radikalsten Gegenentwurf vertritt in diesem Band Fichte, der es Isaac Nakhimovsky zufolge für die Verwirklichung einer überstaatlichen Friedensordnung sogar für notwendig hielt, dass sich die Staaten mit dem Ziel wirtschaftlicher Autarkie und auf der Grundlage eines eigenen Geldsystems vom internationalen Handel abschotteten.
Ein grundsätzlicher Glaube an die positiven Auswirkungen des Handels findet sich hingegen bei Montesquieu, Smith und Kant. Doch bleiben auch hier Einschränkungen und ein Realitätscheck durch die Autoren nicht aus. So wird Montesquieus These, dass sich der Handel aufgrund eines gemeinsamen Interesses der Nationen als zivilisierend und friedensstiftend auswirke, von Marco Platania mit verschiedenen Kautelen versehen, die begreiflich machen sollen, dass Montesquieu keineswegs "naiv" gewesen sei, sondern seine friedensstiftende Wirkung nur unter bestimmten geografischen, politischen und kulturellen Rahmenbedingungen für möglich gehalten habe. Kants ähnlich lautendes Diktum, der "Handelsgeist" könne nicht "mit dem Kriege [...] zusammen bestehen", wird von Dieter Hüning wiederum in den Kontext von Kants teleologischer und am Leitfaden der "ungeselligen Geselligkeit" des Menschen gesponnenen Konzeption der Geschichte gesetzt, die überhaupt nicht auf strikte empirische Beweisbarkeit angelegt gewesen sei. Bleibt Adam Smith, dem es Matthias Bolender zufolge gelungen ist, die durch den "Merkantilismus" und die Theorie der Handelsbilanz hergestellte "Verknotung von Reichtum, Handel und Gewalt" intellektuell zu zerschlagen, indem er mit einem "völlig anderen Reichtumsbegriff" (175) operiert habe, in dessen Zentrum nunmehr der Ertrag der jährlich produzierten Güter gestanden habe. Damit wird jedoch Smiths Selbstdarstellung und sein von der "Merkantilismus"-Forschung längst widerlegter Vorwurf übernommen, die "Merkantilisten" hätten den Reichtum eines Landes mit dessen Edelmetallreserven verwechselt. Dass Smiths Vorstellungen in Bezug auf die friedensstiftende Wirkung des Handels "utopisch" geblieben sind, wie auch Bolender feststellt, mag zu einem nicht geringen Teil daran liegen, dass sein Reichtumsbegriff eben doch nicht ganz so neu war.
Steht in den meisten der genannten Beiträge der internationale Handel im Vordergrund, thematisiert Hans-Ulrich Thamer die Meinungsvielfalt, die es in der Debatte über die Auswirkungen kapitalistischen Wirtschaftens auch in Bezug auf den binnenökonomischen Bereich gab, am Beispiel von Phyiokraten und Anti-Physiokraten in Frankreich.
Mit der großen Bandbreite der vorgeführten Ansichten, die letztlich mehr Skepsis als Vertrauen in die Mechanismen eines unregulierten Markts widerzuspiegeln scheinen, stellt der Band zweifellos eine wichtige Fortführung und zugleich gelungene Ergänzung der klassischen Studien von Hirschman oder Force [1] dar, die eher darauf angelegt sind, die Entwicklung der Idee von den positiven Auswirkungen kapitalistischen Wirtschaftens im 18. Jahrhundert nachzuzeichnen, und den Gegenstimmen dabei naturgemäß weniger Raum geben. Die Beiträge sind allesamt klar formuliert und warten mit interessanten Erkenntnissen auf. Dem Herausgeber ist auch vollkommen darin zuzustimmen, dass die politisch-ökonomischen Diskussionen der Aufklärung von großer Aktualität sind. Zwei Kritikpunkte sind indes zu nennen: Fokussieren die genannten Beiträge geradlinig die Frage der Auswirkung kapitalistischen Wirtschaftens auf die Gesellschaft und die internationalen Beziehungen im Denken bestimmter Autoren, ist dies bei drei weiteren - zum Sicherheitsdenken bei Hobbes und Hume, zur Handelsneutralität im Werk von Emer de Vattel und zur "politischen Ökonomie des Kolonialismus" - nur eingeschränkt der Fall, was dem Band einen etwas uneinheitlichen Charakter verleiht. Auch hätte man gerne mehr darüber erfahren, was die verschiedenen Autoren eigentlich dazu bewegt hat, sich für oder gegen eine bestimmte Position auszusprechen. Handelte es sich tatsächlich um eine rein intellektuelle Debatte, oder können auch andere Einflüsse und Interessen beispielsweise sozio-politischer Art festgestellt werden, die hinter den Positionen standen? Wenn der Anspruch besteht, über die klassische ökonomische Ideengeschichte hinauszugehen, wird man auch diese Frage wieder verstärkt stellen müssen.
Anmerkung:
[1] Albert O. Hirschman: Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt a.M. 1980; Pierre Force: Self-Interest before Adam Smith. A Genealogy of Economic Science, Cambridge 2003.
Olaf Asbach (Hg.): Der moderne Staat und »le doux commerce«. Politik, Ökonomie und internationale Beziehungen im politischen Denken der Aufklärung (= Staatsverständnisse; Bd. 68), Baden-Baden: NOMOS 2014, 300 S., ISBN 978-3-8487-0083-7, EUR 48,00
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