Georges d'Amboise zählt in seinen Funktionen als Erzbischof von Rouen (seit 1494), mehr noch als Premierminister König Ludwigs XII. (1498-1510) und als Vizekönig von Mailand nach der Eroberung im Jahr 1500 zu den wichtigsten Akteuren der französischen Renaissance. Beim Konklave 1503 wurde er in tatsächlich aussichtsreicher Position als 'papabile' gehandelt und 1507 als "vere Rex Franciae" bezeichnet (21). Zahlreiche Studien zu seiner Biografie und zu seiner Patronage, allem voran zu Architektur und Ausstattung des am linken Seine-Ufer unweit von Rouen gelegenen Schlosses Gaillon, liegen inzwischen vor. Den Beginn markieren eine Briefedition von 1712 und eine Vita von 1724. [1]
Parallel zu dem vorliegenden Aufsatzband, der durch ein Register gut erschließbar und mit 36 überwiegend qualitätsvollen Farbabbildungen und 28 weniger prägnanten Schwarz-Weiß-Abbildungen textnah illustriert ist, sind der Pariser Ausstellungskatalog "France 1500" von 2010 und die Akten eines Kolloquiums in Rouen zu konsultieren. [2] Mitunter gibt es Doppelungen gerade zu letzterem Band, und der Beitrag von Flaminia Bardati erweist sich als lediglich eine französische Zusammenfassung ihres Buches aus dem Jahr 2009. [3] Den Rahmen weiten ein Beitrag zu Charles II d'Amboise (1473-1511) und eine Studie zu den Fresken der Kapelle des Schlosses Gaglianico im Piemont.
Überwiegend wird der Stand der Forschung resümiert. Nützlich sind hier zweifelsohne zum Beispiel die Beiträge von Laurent Hablot zur Emblempolitik der Familie Amboise sowie von Cédric Michon zur Funktion des "conseiller". Tatsächlich Neues findet sich zur Statue Ludwigs XII. von Lorenzo da Muzzano (heute im Louvre) ein wenig versteckt im Beitrag von Laurent Vissière (54) mit einer präzisen Dechiffrierung der marmornen Italienkarte, auf die der König seine linke Hand stützt. Plausibel erscheint auch die These von Xavier Pagazani (156f.), der erste Aufstellungsort sei der Eingangspavillon von Schloss Gaillon gewesen, wo die Statue in der Arkatur oberhalb des Portals gestanden habe. Dass nach der Beschreibung der Delegierten der Académie d'architecture aus dem Jahr 1678 hier ein "nach Art eines römischen Feldherren gekleideter Ludwig XII." stand, wusste man seit der Publikation des Berichts im Jahr 1850, umso verblüffender, dass erst jetzt diese Zuordnung erfolgt. Bereits im Entrée wurde mithin der triumphale Gestus, der für Architektur, Ausstattung und die Rekrutierung der beteiligten Künstler insgesamt kennzeichnend ist, unmittelbar zur Anschauung gebracht. Überzeugend sind zudem die neuen Fassadenrekonstruktionen von Pagazani (Fig. 31b).
Wichtig ist schließlich auch der Beitrag von Laure Fagnart, die die vier erhaltenen - und allesamt auch publizierten - Inventare des Schlosses Gaillon neuerlich in den Blick nimmt, und dies weniger im Hinblick auf die Rekonstruktion der Baugeschichte oder der berühmten Bibliothek von Georges d'Amboise, sondern für die Innenausstattung. Selbst wenn Zuordnungen wegen der der Französischen Revolution folgenden Verlustgeschichte häufig hypothetisch bleiben müssen, ist die weitmöglichste Rekonstruktion und Visualisierung der Ausstattung doch von Interesse. So wird zum Beispiel die Kopie des Mailänder Abendmahls von Leonardo, die sich einstmals in der "grande gallerie" befunden hat, mit der Version von Marco d'Oggiono, heute im Musée de la Renaissance in Écouen, parallelisiert (179-181); auch wenn es sich nicht um das fragliche Werk handeln sollte, erlaubt d'Oggionos Bild, davon eine Vorstellung zu gewinnen. Gleiches gilt für Bilder von Perugino, deren Themen und Lokalisierung innerhalb des Schlosses durch die Inventare überliefert sind und für die Fagnart andere Werke von Perugino mit zumindest gleicher Ikonografie namhaft machen kann (181-184). Auch interessant ist hier die Zuordnung einer heute in der Walker Art Gallery in Liverpool verwahrten Zeichnung Andrea Mantegnas zu einem Auftrag für ein Retabel in der Kapelle des erzbischöflichen Palastes von Rouen (177f.).
Ein schönes, zukünftiges Projekt wäre die möglichst umfassende virtuelle Rekonstruktion des Schlosses Gaillon, die solche Parallelüberlieferungen einbinden würde: Wenn es das originale Werk nicht mehr gibt, dann nimmt man eine andere, potenziell ähnliche Arbeit aus der Zeit.
Anmerkungen:
[1] Lettres du roy Louis XII et du cardinal George d'Amboise avex plusieurs autres lettres, mémoires et instructions écrites depuis 1504 et compris 1514, 4 Bände, Brüssel 1712; Louis Legendre: Vie du cardinal d'Amboise. Premier ministre de Louis XII, avec un parallèle des cardinaux célèbres qui ont gouverné les ètats, Rouen 1724.
[2] Geneviève Bresc-Bautier / Thierry Crépin-Leblond / Elisabeth Taburet-Delahaye / Martha Wolff (éds.): France 1500. Entre Moyen Âge et Renaissance, Ausst.-Kat. Paris 2010; Martha Wolff (éd.): Kings, queens, and courtiers. Art in early Renaissance France, Ausst.-Kat. Chicago 2010; Jean-Pierre Chaline (éd.): Au seuil de la Renaissance. Le cardinal Georges d'Amboise (1460-1510). Actes du colloque Georges d'Amboise, l'homme et son œuvre (Rouen, 8.-9.10.2010), Rouen 2012.
[3] Flaminia Bardati: "Il bel palatio in forma di castello". Gaillon tra 'Flamboyant' e Rinascimento, Rom 2009. Vgl. auch die unpublizierte Magisterarbeit von Astrid-Cordula Huth: Das Château Gaillon des Georges d'Amboise 1502-1510, am Institut für Kunstgeschichte der RWTH Aachen, 2002.
Jonathan Dumont / Laure Fagnart: Georges Ier d'Amboise. 450-1510, Une figure plurielle de la Renaissance. Actes du colloque international tenu à l'université de Liège les 2 et 3 décembre 2010 (= Collection "Histoire"), Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2013, 274 S., 32 Farbtafeln, ISBN 978-2-7535-2772-0, EUR 20,00
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