Das Ende der Frühen Neuzeit um 1800 ist durch eine Reihe signifikanter Einschnitte gekennzeichnet, die nach Reinhart Koselleck (1923-2006) in der Gesamtschau als "Sattelzeit" den Übergang zur modernen Welt darstellen. Es handelt sich geradezu um ein "Age of Revolutions", wie Eric Hobsbawm (1917-2012) formulierte, das die Grundfesten Europas und der atlantischen Welt erschütterte: eine Zeitenwende, die durch abrupte Brüche definiert ist, sich darüber hinaus aber auch im komplexen Geflecht von Kontinuität und Wandel vollzieht. Diese allgemeinen Überlegungen bilden den theoretischen Hintergrund für das hier zu besprechende Buch "Imperial Portugal in the Age of Atlantic Revolutions. The Luso-Brazilian Wold, c. 1770-1850" aus der Feder von Gabriel Paquette, Historiker an der Johns Hopkins University in Baltimore/USA.
Orientiert am Paradigma des "Age of Revolutions" und am Vorbild- und Modellcharakter der Amerikanischen und Französischen Revolution mit ihrem akzentuierten Modernisierungspotential, wurde bisher überwiegend der Zäsurcharakter der Unabhängigkeit Brasiliens in der Geschichte und nationalen Geschichtsschreibung Brasiliens und Portugals hervorgehoben. Im Gegensatz dazu betont Paquette die vielschichtigen Kontinuitätslinien über die brasilianische Unabhängigkeit hinaus - "this book emphasizes the way that ruptures did not always lead to disruption and discontinuity" (6) - oder, wenn man so will, das "Nicht-Revolutionäre" im Zeitalter der Revolutionen. Ganz bewusst fragt Paquette dabei nach dem bisher kaum thematisierten Nach- und Überleben der Institutionen und Strukturen des portugiesischen Weltreichs sowie der kolonialen Vergangenheit in der postkolonialen Zeit beider Länder. Der Zusammenbruch des Luso-Brasilianischen Reiches war die gemeinsame Grundlage für die Suche nach neuen stabilen Verhältnissen beidseits des Atlantiks.
Nach der Einführung ins Thema (1-16) entfaltet Paquette sein Thema in fünf Kapiteln (17-371), ehe er seine Ergebnisse kompakt zusammenfasst (372-390); vervollständigt wird die Studie durch ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis (391-444) und ein knappes, allerdings unvollständigen Register (445-450). Aus der Perspektive des Autors erfahren die oftmals als Fehlschlag oder unzureichend beurteilten Reformbemühungen der portugiesischen Krone im späten 18. Jahrhundert eine deutliche Aufwertung (I, 17-83). Sie waren auf das Gesamtreich ausgerichtet, zielten auf eine Integration der Peripherien ab und brachten eine Schicht von Beamten und Intellektuellen hervor, die oftmals multi-kontinentale Karrierewege aufwiesen, transatlantisch orientiert waren und der Krone nahestanden. Damit war die Auflösung des Luso-Brasilianischen Reiches keineswegs vorgezeichnet, sondern "a highly contingent process in which the role of a handful individuals possessing disproportionate amounts of political power decisively shaped the outcome" (373). Die französische Invasion und Besetzung Portugals veranlassten bekanntlich den Transfer des portugiesischen Königshofes von Lissabon nach Rio de Janeiro; nach der Niederlage der französischen Truppen setzten in Portugal politische Diskussionen über liberale und konstitutionelle Ideen ein, die 1820 zur liberalen Revolution von Porto und zur Rückkehr Dom Joãos VI. nach Portugal (1821) führten, während sein Sohn, Prinzregent Pedro, am 7. September 1822 die Unabhängigkeit Brasiliens ausrief und eine alsbald wieder aufgelöste Verfassunggebende Versammlung einberief (II, 84-163). Thema im dritten Kapitel (164-234) sind die Ereignisse in Portugal und Brasilien seit dem Entscheidungsjahr 1823, als sich autoritär-absolutistische Tendenzen bemerkbar machten und "the likelihood of reconciliation between Portugal and Brazil was great" (15). Die konstitutionellen Diskussionen in Portugal und Brasilien waren eng verwoben mit der Frage, wie sich die diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern künftig gestalten sollten. Die instabile politische Lage in Portugal nach der Unabhängigkeit Brasiliens äußerte sich in hitzigen politischen Diskussionen liberaler und absolutistischer Kräfte und entlud sich in einem blutigen Bürgerkrieg (IV, 235-315). Abschließend setzt sich der Autor mit Portugal in der nach-imperialen Zeit auseinander, als man versuchte, den Verlust der Überseebesitzung Brasilien mit Siedlungsprojekten in Afrika (v.a. Angola und Mosambik) zu kompensieren. Über den Fortbestand des Sklavenhandels - bis 1850 auf britischen Druck hin dessen Ende verkündet wurde - blieben Portugal und Brasilien durch gemeinsame wirtschaftliche Interessen in Afrika verbunden (V, 316-371) - zumal gemeinsame Strukturmerkmale in Staat und Gesellschaft über den politischen Bruch von 1822 hinaus in beiden Ländern überlebt hatten oder danach neu entstanden (Handel, Wirtschaft, Dynastie, Religion, Kultur, Recht, Familienbeziehungen etc.). Noch viele Jahre erfuhr etwa die brasilianische Elite ihre Ausbildung in der alten Metropole (Universität von Coimbra).
Die ambivalenten Kontinuitäten über die Unabhängigkeit Brasiliens und ihre offizielle Anerkennung durch Portugal 1825 hinaus manifestieren sich besonders in der portugiesischen Verfassung von 1826, der sogenannten, mit Unterbrechungen und Modifikationen, bis 1910 gültigen "Carta Constitucional" - eine liberal-konservative Kompromisslösung, die von Dom Pedro I., Kaiser von Brasilien und als Pedro IV. Nachfolger seines Vaters auf dem portugiesischen Königsthron, erlassen wurde. Insofern der Krone angesichts des "instable balance among local, regional and central agencies" (13) im portugiesischen Weltreich eine zentrale Bedeutung zukam - "it is possible to conclude, provisionally, that the Crown was omnipresent, even if it was far from omnipotent" (14) - rechtfertigt Paquette den Rückgriff auf Fragestellungen der traditionellen Geschichtsschreibung, die in der neueren Historiografie bisweilen ausgeblendet werden: die Rolle der Herrschenden und Eliten, die Relevanz dynastischer Überlegungen, die Bedeutung individuellen Handelns und der jeweilige Handlungsspielraum der beteiligten Akteure etc.
Der Fluss der Geschichte ist unstrukturiert, erst der "Rück"-Blick der Historikerzunft verleiht ihr Form und Gestalt. In diesem Sinne hinterfragt der Autor die in der Geschichtswissenschaft überbetonte Zäsur der Unabhängigkeit Brasiliens und relativiert sie für die "Luso-Brazilian World" (1770-1850) durch ein vielschichtiges Geflecht von Wechselbezügen in Raum und Zeit über alle formalen Grenzen hinweg: "Portugal and Brazil continued to affect each other's political and economic development, by both presence and absence. Parallel and sometimes intersecting histories belie the notion of discrete historical epochs and an unambiguous division separating colonial from national, Atlantic from post-Atlantic, European from (Latin) American History. The interpenetrations of these histories after formal dominion faded makes clear the fuzziness, wobbliness, ambiguity, and indefinite nature, to say nothing of the inadequacy, of conventional periodization." (375) Paquettes Ansatz verleiht den bisweilen unübersichtlichen Entwicklungen - zwischen liberalen und konservativ-absolutistischen Ideen, zwischen Independência und Restauração, zwischen zentralistischem und föderalistischem Staatsaufbau - in der Luso-Brasilianischen Welt dieser Zeit mehr Klarheit und Stringenz - und genau darin liegt das Verdienst dieses Buches.
Gabriel Paquette: Imperial Portugal in the Age of Atlantic Revolutions. The Luso-Brazilian World, c. 1770-1850, Cambridge: Cambridge University Press 2013, XIV + 450 S., ISBN 978-1-107-64076-4, GBP 19,99
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