Wirkmacht wird man dem Werk wohl kaum absprechen können. Keines - die Bibel ausgenommen - war für das mittelalterliche Denken derart entscheidend. Die Entwicklung des abendländischen Denkens jedenfalls wäre ohne die Sentenzen des Petrus Lombardus († 1160) gänzlich anders verlaufen. Kein Theologiemagister, der auf sich hielt, verzichtete darauf, das Werk zu kommentieren. Im Spätmittelalter traten Kommentare der Kommentare in großer Zahl hinzu. Peter Rosemann, der an der Universität Dallas lehrende Philosoph, hat sich in den vergangenen Jahren um die Erschließung dieser Art von Kommentarliteratur außerordentlich verdient gemacht. Zu Recht mahnte er zuletzt eine weitergehende Beschäftigung mit den Kommentaren des späten Mittelalters bzw. der Frühen Neuzeit an. Diese Mahnung wurde im nun vorliegenden Band beherzigt, gehört doch ein Großteil der neun darin enthaltenen, qualitativ hochstehenden und häufiger völliges Neuland betretenden Artikel genau dieser Epoche an. Einiges davon sei in der Folge herausgegriffen.
Franklin T. Harkins behandelt eine verkürzte Version der Sentenzen, die um 1240 in Paris zum ersten Mal unter dem Titel Filia Magistri zirkulierte und wohl das Ergebnis der Arbeit mehrerer (anonymer) Autoren war (Filiae Magistri: Peter Lombard's Sentences and Medieval Theological Education "On the Ground", 26-78). Bis ins 15. Jahrhundert wurden daran Ergänzungen bzw. Veränderungen vorgenommen, so dass man heute von einer Filiae Magistri-Tradition sprechen kann. Der Text wurde im theologischen Elementarunterricht verwendet - freilich weniger an Universitäten als an monastischen Bildungsstätten.
Ueli Zahnds Beitrag wäre vor noch einem Jahrzehnt unter der Rubrik "Ehrenrettung des 15. Jahrhunderts" verbucht worden - eines Jahrhunderts, das (so meinte man) zumindest auf dem Gebiet der Sentenzenkommentare wenig Innovatives vorzuweisen hatte (Easy-Going Scholars Lecturing Secundum Alium? Notes on some French Franciscan Sentences Commentaries of the Fifteenth Century, 267, 314). Diese Sichtweise gehört der Vergangenheit an. Wie stark dieses Genre im Gegenteil florierte, zeigt der Blick auf drei, im Pariser universitären Umfeld zu verortende Kommentare franziskanischer Provenienz. Guillaume de Vaurouillon (c. 1390-1463), Nicolas d'Orbelles (c. 1400-1472/75) und Stefan Brulefer (c. 1450-c. 1499) unterscheiden sich in ihrem Zugriff auf die Materie. Ersterer liefert einen Vollkommentar, der nicht nur jedes Buch, sondern jede einzelne distinctio berücksichtigt und dabei von einem Proportionsgedanken beseelt ist, den man eher in der Architektur der Frührenaissance verorten würde: ausgehend von einer auf der Zahl 3 beruhenden Fibonacci-Folge wird der Text strukturiert. Anders bei Brulefer: sein Text ist zwar auch ein Ergebnis universitären Unterrichts, aber im Gegensatz zu Vaurouillon und d'Orbelles, die beide auf strukturelle und sprachliche Klarheit setzen und Richtungsstreitigkeiten einzelner Autoritäten eher gering achten, ist Brulefer nicht immer frei von weitschweifender Polemik, in die sogar Thomas von Aquin miteinbezogen wird. Eines jedoch gilt für alle drei Autoren: "[They] aimed not so much to theologize in a pedagogical environment, as to prepare theological content pedagogically." (313)
Claire Angotti setzt sich mit einigen inkriminierten Passagen im Werk des Petrus Lombardus auseinander, darunter dem alten Problem der Wirksamkeit des von einem häretischen Priester dargebrachten Altarsakraments (Les listes des opiniones Magistri Sententiarum quae communiter non tenentur: forme et usage dans la lectio des Sentences, 79-144). Petrus hatte diese Wirksamkeit, anders als etwa Thomas von Aquin, vehement bestritten. Studenten hatten sich mit diesen abweichenden Meinungen zu beschäftigen und konnten dabei auf Listen zurückgreifen, in denen die "verdächtigen" Passagen aufgeführt waren. Bonaventura erwähnte in seinem Kommentar acht propositiones, die "für gewöhnlich nicht (mehr) so vertreten werden" (communiter non tenentur).
Ein Autor, dessen Bekanntheitsgrad in Zukunft wohl steigen dürfte, ist Gegenstand fundierter Betrachtungen aus der Feder von Monica Brînzei und Chris Schabel: Nikolaus von Dinkelsbühl, ein um 1400 wirkender Wiener Universitätsgelehrter (The Past, Present, and Future of Late Medieval Theology: The Commentary on the Sentences of Nicholas of Dinkelsbühl, Vienna, ca. 1400, 174-266). [1] Hier werden Forschungspositionen - insbesondere in Datierungsfragen - revidiert und die Abhängigkeiten der zahlreichen Handschriften untereinander detailliert beschrieben. Ins Zentrum der Betrachtungen rückt dabei vor allem die Handschrift Wien, Schottenstift, 269, "Dinkelbühl's working draft" (183), von der ausgehend eine Vielzahl von Textrevisionen entstanden ist. Deren z.T. prominente Autoren wie Johannes Berward von Villingen, Petrus von Pulkau oder Arnold von Seehausen legitimieren die Bezeichnung dieser Handschriftengruppe als "Vienna Group Commentary". Zu Recht wird Dinkelsbühl als "compiler or abbreviator" (186) bezeichnet, doch heißt dies eben gerade nicht, dass er ein Werk bar jeder Originalität geschaffen hätte. Die Auswahl der von ihm verwendeten Autoren traf er bewusst. Eine tabellarisch gegliederte Zitatenliste bezeugt diesen Anspruch. Mehr hätte man gerne über die Verbindungen zwischen Gerson und Dinkelsbühl erfahren - denn intensive Kontakte zwischen Paris und Wien in diesem Zeitraum sind unstrittig. Am Ende seines Lebens verfasste Dinkelsbühl einen gesonderten Kommentar zu Buch IV der Sentenzen, die nach dem Kloster Melk benannte Lectura Mellicensis. In Kloster Melk brachte er den Mönchen in den Jahren 1421-24 die Inhalte dieses vierten Buchs nahe und verschriftlichte seine Gedanken später. Im Vergleich zum früheren (Voll-)Kommentar werden seine Positionen dabei deutlich konservativer, sein Zugriff erscheint "not only conservative, but irenic." (255) Duns Scotus, Thomas von Aquin und Bonaventura steigen zu Hauptautoritäten auf, zeitgenössische Autoren oder gar muslimische Gelehrte sucht man nun vergebens. Mit mehr als 200 erhaltenen Handschriften gehört diese Lectura Mellicensis zu den am weitesten verbreiteten Kommentaren überhaupt - eindrucksvoll die Liste mit den jüngst neu identifizierten bzw. entdeckten Handschriften (264-66).
Die intensive, international vernetzte Forschung zeigt es: Sentenzenkommentare wirken weit über das Mittelalter und die Frühe Neuzeit in die aktuelle Gegenwart hinein. Angesichts des Medienwechsels stellt sich freilich das Problem ihrer Vermittlung. Damit setzt sich Jeffrey C. Witt in seinen Ausführungen auseinander (Texts, Media, and Re-Mediation: The Digital Future of the Sentences Commentary Tradition, 504-515). Welche Chance bieten digitale Medien? Klar ist: Altes (die klassische gedruckte kritische Edition) wird dabei nicht einfach durch Neues (die digitale Edition mit einer Vielzahl unterschiedlicher Editionsstadien und Suchfunktionen) ersetzt, im Gegenteil. Der Zugriff auf das Alte bleibt erhalten. Demonstriert wird dies anhand eines work in progress: der digitalen Edition eines Sentenzenkommentars aus der Feder des Pierre Plaoul (um 1390) (http://petrusplaoul.org). Die Gründe, die zum Erstellen einer ausschließlich netzbasierten Edition geführt haben, werden ausführlich erläutert. Entscheidend dabei ist das "early and often" (508): ein Arbeitstext wird bereits zu einem frühen Zeitpunkt ins Netz gestellt und erfährt dort Kritik. Die Kommentare werden wiederum eingearbeitet, eine verbesserte Version schließlich zur Verfügung gestellt. Dieser Prozess, nichts anderes als ein ausgesprochen umfangreiches Peer-review-Verfahren, lässt sich beliebig oft wiederholen. Prohibitive Druckkosten fallen weg. Als "the only true necessity" (514) bei der Erstellung der Edition wird auf das "semantic encoding" verwiesen, das - richtig angewandt - unterschiedliche Zugriffsweisen auf den Text mit einer Vielzahl von Recherchemöglichkeiten eröffnet.
Der Band, dem weite Verbreitung zu wünschen ist, besticht durch dreierlei: 1. die profunden Gedanken zum Problem von "Autorschaft" und "Originalität" im Mittelalter; 2. die Verweise auf die Rolle der Sentenzenkommentare bei der Vermittlung theologisch-philosophischen Basiswissens und schließlich 3. die Analyse der dynamischen Rolle, die Petrus Lombardus' Sentenzen in der Theologie des späten Mittelalters gespielt haben. Nicht nur Theologen und Universitätshistoriker, sondern all diejenigen, die an mittelalterlicher Geistesgeschichte interessiert sind, werden durch die Lektüre der Beiträge reichen Gewinn davontragen.
Anmerkung:
[1] Monica Brînzei (ed.): Nicholas of Dinkelsbühl and the Sentences at Vienna in the Early Fifteenth Century (= Studia Sententiarum; 1), Turnhout 2015.
Philipp W. Rosemann (ed.): Mediaeval Commentaries on the Sentences of Peter Lombard. Volume 3, Leiden / Boston: Brill 2015, IX + 563 S., ISBN 978-90-04-21184-1, EUR 181,00
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