Es war einmal eine Zeit, in der die Welt der Rechtshistoriker und der Allgemeinhistoriker wohlgeordnet erschien: Erstere untersuchten rechtliche Verfahren und Kodifikationen, letztere beschäftigten sich z.B. mit der frühneuzeitlichen Staatsentstehung. Diese Themenfelder konvergierten im Bereich des frühneuzeitlichen Strafrechts, das nach und nach dazu beitrug, das wilde und oft gewalttätige Verhalten der Untertanen zu disziplinieren. Ein überspitzendes Zerrbild, gewiss, das aber doch wesentliche Aspekte jener Forschungsperspektive auf den Punkt bringt, die bis in die 1970er-Jahre dominierte. Die Überspitzung hilft, den dramatischen Wandel deutlich zu machen, der sich seither unter dem Einfluss sozialgeschichtlicher und kulturanthropologischer Anregungen vollzogen hat. Ein wichtiger Meilenstein dieser Veränderung war ein wegweisender Sammelband, den der Frühneuzeithistoriker John Bossy 1983 herausgab. Der programmatische Einleitungsaufsatz stammte nicht aus der Feder eines Historikers, sondern eines in Afrika forschenden Rechtsanthropologen. Simon Roberts entwickelte dort einerseits systematische Überlegungen zur Untersuchung von "disputes" und "conflicts", etwa zum Verhältnis von "talking" and "fighting" in den Streitigkeiten. Anderseits reflektierte er die unterschiedlichen Formen des "settlements" dieser Konflikte z.B. durch Schiedsrichter und Schlichter. [1] Durch diese Brille betrachtet verschwammen die Grenzen zwischen "Recht" und weiteren sozialen Verhaltensnormen. Die Gerichte wurden als ein Mittel zur Konfliktlösung neben anderen erkennbar. Und das Verhalten der "einfachen Leute" bekam plötzlich ein stärkeres Gewicht in Hinblick auf die Ausprägung säkularer historischer Prozesse wie der Staatsentstehung.
Der vorliegende Band stellt sich ganz programmatisch in diese Tradition, fragt nach der seitherigen Entwicklung und nach zukünftigen Perspektiven. Das wird schon in der pointierten Einleitung der Herausgeber deutlich. Zum einen geht es darin um eine mögliche Typologie der verschiedenen Akteure und Regeln des 'peacemaking'. Zum anderen wird in diachroner Perspektive gefragt, inwieweit sich die Mechanismen des Konfliktmanagements im Laufe der Zeit veränderten, inwieweit z.B. gewaltsame Formen zurückgedrängt wurden. (Nebenbei bemerkt spreche ich hier bewusst nicht von "Konfliktlösung", weil dieser Begriff eine positive Wertung transportiert, die der Sache nicht angemessen ist. Auch ein Totschlag kann einen interpersonalen Konflikt beenden, stellt aber wohl kaum eine "Lösung" dar. Das Problem wird im Übrigen von Kounine und Cummings sehr wohl gesehen (6), ohne dass sie allerdings terminologische Konsequenzen ziehen würden.)
Für den unleugbaren Erfolg des rechtlichen Streitaustrags und damit für die wachsende Bedeutung staatlicher Gerichte hat sich ein alternatives Erklärungsparadigma etabliert: Sah man hier früher obrigkeitliche Disziplinierungsprozesse am Werk, so sieht man heute hier eher einen Effekt intensiver Gerichtsnutzung, gleichsam der 'Nachfrage', durch die Untertanen, die zu einer Stärkung des Rechts führte. "In this view, state formation is consumer-led" (2). Die Produktivität der "Disputes and Settlements"-Perspektive wird in einem Nachwort am Ende des Buches von Stuart Caroll unterstrichen, einem Kollegen des 2015 verstorbenen John Bossy an der University of York. Seine Arbeiten gehören im vorliegenden Band zu den meistzitierten Referenztiteln der jüngeren Generation. [2]
Ansonsten kommen die Beiträger und Beiträgerinnen des Bandes aus der Generation jüngerer Post-Docs. Ihre Forschungen richten sich auf Italien (dreimal), auf Frankreich und Deutschland (jeweils zweimal) sowie auf Ungarn und auf die portugiesischen Stützpunkte in Asien. Einen gewissen Sonderstatus besitzt der zehnte, konzeptuell ausgerichtete Beitrag aus der Feder von John Jordan (Bern). Wie können Historiker, so seine Leitfrage, die Konzepte der Rechtsanthropologie nutzen? Zu diesem Zweck verfolgt er zunächst getrennt die Debatten innerhalb der Geschichtswissenschaft und innerhalb der (in Deutschland immer noch zu wenig rezipierten) Rechtsanthropologie "seit Bossy", um dann nach Konvergenzpotentialen und Perspektiven zu fragen. Die "legal anthropology", so sein trockenes Zwischenfazit, "continues to investigate norms, rules and laws; social order; and the manner in which people (or groups) navigate this terrain" (29). Dabei macht er deutlich, wie sehr im Einzelnen strittig ist, was überhaupt "Recht" (im Gegensatz zum außerrechtlichen Bereich) ausmacht und welche Bedeutung "Regeln" und "Normen" haben.
Gemäß den Gesetzmäßigkeiten des englischsprachigen Buchmarktes suggeriert der vorliegende Band mit seiner Kapitelstruktur, mit zahlreichen Querverweisen und einem gemeinsamen Korpus von hauptsächlich genutzten Referenzwerken eine inhaltliche Geschlossenheit weit oberhalb des Niveaus eines durchschnittlichen deutschen Sammelbandes; dabei kommt die einschlägige deutschsprachige Forschung im Anschluss an Bossy jenseits einiger Verweise bei Jordan und Caroll im Übrigen kaum vor. [3] Jenseits dieser Benutzeroberfläche ordnen sich die Beiträge unterschiedlich dicht den Rahmenkonzepten zu. Nikolas Funkes Studie über den Umgang mit Konfessionsunterschieden im Militär des 17. Jahrhunderts zeugt z.B. eher von deren Irrelevanz, zumindest Nachrangigkeit in diesem Milieu als von einer "negotiation of confessional differences". Auch bei der anschaulichen Analyse zweier Konflikte zwischen (weltlichen und geistlichen) kolonialen Autoritäten in den portugiesischen Stützpunkten Malakka und Macau von Tara Alberts spielen die analytischen Perspektiven des Bandes kaum eine Rolle. Und dass die öffentlichen Hinrichtungen am Ende der französischen Religionskriege, wie Tom Hamilton unter Verweis auf die z.T. kritische Reaktion des Volkes konstatiert, eher zur Perpetuierung als zu 'Lösung' von Konflikten taugten, erscheint wenig überraschend.
Andere Beiträge ordnen sich den Rahmenkonzepten überzeugender zu. Das trifft insbesondere auf den Aufsatz von Marco Cavarzere zu, der zugleich als Einstieg in die breit referierte italienische Forschung dienen kann. Er demonstriert am Beispiel der toskanischen Stadt Pistoia unter der Herrschaft der Medici die Koexistenz 'alter' und 'neuer' Formen des Konfliktmanagements bzw. die Inkorporation ersterer in letztere: früher autonome Formen informeller Schlichtung und Friedenswahrung unter der Ägide mächtiger lokaler Familienclans wurden nun gleichsam 'verstaatlicht'. In engem Anschluss an Simon Roberts zeigt Christian Schneider anschaulich, dass sich Päpste wie Clemens VIII. oder Innozenz X. je nach Kontext und Fall ganz flexibel als formeller Richter, als Schiedsrichter mit Entscheidungskompetenz oder als neutraler Mediator ohne Entscheidungsmacht in Szene setzten und welchen politischen Rationalitäten sie dabei folgten. Christan Kühner befasst sich auf der Grundlage autobiografischer Zeugnisse mit den Chancen und den Grenzen der Mediation im französischen Hochadel des 17. Jahrhunderts. Manchmal konnte eine Versöhnung durch ein Netzwerk von 'Freunden' erreicht werden, manchmal nur durch die autoritative Vermittlung Höhergestellter; wer wollte, fand Mittel und Wege der Verzögerung, des Ausweichens oder des Rückgängigmachens von Schlichtungen.
Waren die bisher benannten Beiträge eher in der Welt des Adels angesiedelt, so führen andere tatsächlich in diejenige der 'ordinary people'. Gabriella Erdélyi untersucht Fälle schwerer bzw. lethaler Gewalt zwischen Laien und Klerikern im Königreich Ungarn, die um 1500 vor die Apostolische Pönitentiarie in Rom getragen wurden. Ihre Studie zeigt anschaulich die Verwobenheit lokaler Geschehnisse mit weit entfernten Instanzen der Konfliktregulierung und gibt Hinweise auf die besondere Rolle von Geistlichen, die zwischen sakraler Sonderrolle und der Identität als ganz normale Nachbarn im Alltag changierte. Laura Kounine zeigt in einer Mikrostudie zu einem württembergischen Hexenprozess, dass ein solcher Prozess - gleichsam durch die Prozessakten hindurch - als fortgeschrittene Stufe des Umgangs mit dem zugrundeliegenden Konflikt verstanden werden kann; wenig überraschend 'löste' der Prozess den Konflikt nicht (die Angeklagte musste mangels Beweisen aus der Haft entlassen werden), sondern veränderte und schärfte ihn. Stephen Cummings schließlich zeigt die Bandbreite des Instrumentariums zum Umgang mit Gewalt im frühneuzeitlichen Neapel, wobei in der Praxis Gewaltandrohungen und sozialer Druck hinter den Kulissen eine große Rolle im Ringen um eine Versöhnung spielten.
Insgesamt sind die Kapitel des vorliegenden Bandes allesamt empirisch gehaltvoll, ordnen sich zu einem größeren Teil in den konzeptuellen Rahmen auch gut ein, wirken allerdings in ihren konzeptuellen Ansprüchen z.T. etwas bemüht. Trotz dieses gewissen programmatischen Überschusses stellt das Buch insgesamt einen willkommenen Beleg für die Fruchtbarkeit einer Forschungsperspektive dar, die noch längst nicht ausgeschöpft sein dürfte.
Anmerkungen:
[1] Simon Roberts: The Study of Dispute: Anthropological Perspectives, in: Disputes and Settlements. Law and Human Relations in the West, hg. v. John Bossy, Cambridge 1983, 1-24; vgl. ders.: Order and Dispute. An Introduction to Legal Anthropology, 2nd edition, New Orleans 2013.
[2] Stuart Caroll: Blood and Violence in Early Modern France, Oxford 2006; ders. (Hg.): Cultures of Violence: Interpersonal Violence in Historical Perspective, New York 2007.
[3] Als Pionierwerk pars pro toto Martin Dinges: Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994; ähnlich gelagerte Problemlagen wie im vorliegenden Sammelband wurden z.B. verhandelt in Magnus Eriksson / Barbara Krug-Richter (Hgg.): Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, Köln 2003; oder in Barbara Krug-Richter / Ruth-E. Mohrmann (Hgg.): Praktiken des Konfliktaustrags in der Frühen Neuzeit, Münster 2004.
Stephen Cummins / Laura Kounine (eds.): Cultures of Conflict Resolution in Early Modern Europe, Aldershot: Ashgate 2016, XI + 292 S., ISBN 978-1-4724-1155-6, GBP 95,00
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