Der Autor möchte mit seiner Potsdamer Dissertation die Judenemanzipation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als einen komplexen Prozess sichtbar machen, an dem unterschiedliche Akteursgruppen mit unterschiedlichen Zielen und Handlungsmöglichkeiten beteiligt waren. Das ist ihm gelungen. Er hat die Beobachtungstiefe, die eine Lokalstudie ermöglicht, genutzt, um die Handlungsspielräume der staatlichen und der kommunalen Akteure wie auch der lokalen Interessengruppen präzise auszuloten. Dass auch Individuen Korrekturen erreichen konnten, wird ebenfalls sichtbar.
Judenemanzipation wird als rechtliche Gleichstellung definiert. Ob damit auch sozialer Aufstieg und kulturelle Annäherung verbunden waren, wird nur gelegentlich sichtbar. Im Zentrum der Studie steht die Frage nach dem Staatsbürgerrecht und den kommunalen Bürgerrechten für Juden. Im Untersuchungszeitraum lag der jüdische Anteil an der städtischen Gesamtbevölkerung bei ca. 4 %. Juden waren somit die drittgrößte Religionsgruppe im dominant lutherischen Danzig. Ihre Position wurde in kontroversen Prozessen zwischen staatlichen und kommunalen Akteuren ausgehandelt. Die oberste staatliche Ebene machte Vorgaben, die auf eine einheitliche Staatsbürgergesellschaft unabhängig von der Religionszugehörigkeit zielte. Dies gilt bei allen Unterschieden im Einzelnen für die kurze französische Herrschaftsphase ebenso wie für die preußische. Es war kein top-down-Verfahren, wie Szulc betont, doch auch seine Studie zeigt: Der Anstoß zur Vereinheitlichung der früheren Rechtsvielfalt kam von oben, vom französischen Gouverneur bzw. dann von der preußischen Regierung. Stets war es das Zentralproblem, in welchem Verhältnis die neue, auf Egalität angelegte Rechtsfigur des Staatsbürgers zu der des Stadtbürgers stehen sollte. Hier folgten die kommunalen Institutionen keineswegs den staatlichen Intentionen, zumal diese sich änderten und uneinheitlich waren. Die städtischen Gremien nutzten dies, um die Institutionen der staatlichen Verwaltung gegeneinander auszuspielen. Letztlich setzte sich der Staat - seine oberste Ebene - durch, doch den kommunalen und den regionalen Behörden gelang es, die Implementation von Gesetzen und Verordnungen hinauszuzögern oder sie zu modifizieren. Auch Interessenorganisationen wie die bis dahin rein christliche Korporation der Kaufmannschaft und jüdische Gemeinden - eine zentrale jüdische Vertretung gab es nicht - nahmen Einfluss. Einwohner, die sich durch die Institutionen nicht angemessen vertreten fühlten, griffen zum Instrument der antijüdischen Unruhen. In den 1840er-Jahren kam schließlich in Danzig verstärkt eine mediale Öffentlichkeit hinzu, die ebenfalls auf die Haltung der Bürger und auf die staatliche und kommunale Politik Einfluss ausübte.
Das preußische Emanzipationsgesetz von 1812 griff tief in die Kommunen ein, indem es den Juden Freizügigkeit und Gewerbefreiheit zusprach. Dagegen opponierten nicht nur die Stadtbehörden, sondern auch staatliche Regionalbehörden. Sie brachten die bekannten Einwände vor: Juden als eine eigene Nation mit einer spezifischen Kultur, zu der Habgier und Betrügerei als typische Verhaltensform gerechnet wurde. In Danzig kam eine Geschichtsdeutung hinzu, die den Juden den Untergang des polnischen Stadtbürgertums anlastete. Vor allem aber ging es den städtischen Institutionen und auch regionalen Staatsinstanzen darum, die christliche Mehrheit der Kaufleute vor der Konkurrenz durch Juden zumindest eine Zeitlang zu schützen. Spätestens ab der königlichen Ordre von 1818 kam es auch an der Staatsspitze zu einem Revisionismus, der darauf zielte, die bis dahin erfolgte Verleihung des Staatsbürgerrechts an Juden zwar nicht einzuschränken, jedoch weiteren Zuzug von Juden nach Danzig und den Handel Danziger Juden außerhalb der Stadt zu verhindern. Theodor von Schön, Oberpräsident der Provinz Westpreußen und dann zusätzlich Regierungspräsident in Danzig, entwickelte in der behördeninternen Debatte ein Erziehungskonzept, das die Juden in den als christlich definierten preußischen Staat einfügen sollte. Ob die Danziger Konzepte aufseiten der Christen und der Juden Spezifika hatten, wird nicht sichtbar. Das zentrale Werk, das zu konsultieren gewesen wäre, wird nicht herangezogen. [1]
Seit den 1830er-Jahren begann sich das Danziger Meinungsklima zu verändern. Nachdem sich die zentralen Behörden gegenüber den Mittelinstanzen und der Stadt durchgesetzt und Handelsbeschränkungen für jüdische Kaufleute abgelehnt hatten, wurde die lokale Presse zur Hauptbühne für die Emanzipationsdiskussion. In ihr wurde die rechtliche Gleichstellung der Juden mehr und mehr als zeitgemäß anerkannt. Nun konnte über die Rolle der Religionen im gesellschaftlichen Leben und im Staat öffentlich kontrovers debattiert werden.
Den Band runden sechs Anhänge ab: interne und publizierte Stellungnahmen sowie ein Bild der Danziger Kaufmannskorporation von 1844 und eine Statistik der individuellen Bewerbungen von Juden um die Staats- oder Stadtbürgerrechte in Danzig. Der Autor präzisiert unsere Kenntnis der Wege zur rechtlichen Gleichstellung von Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, indem er diese Wege als "einen politischen Kampfplatz verschiedener Akteure" (297) untersucht. Es geht jedoch nicht um das (vermeintlich) "vergessene Hinterfragen der tatsächlichen Wirkung der Judenpolitik" (307). Und auch die Lokalgeschichte wird nicht auf ein neues Niveau gehoben. Der Autor grenzt sich zwar programmatisch von einer "Lokalstudie im herkömmlichen Sinn" (11) ab, doch die anspruchsvolle Lokalgeschichte war nie so selbstgenügsam lokal, wie er anzunehmen scheint.
Anmerkung:
[1] Simone Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004. Vgl. hierzu die Rezension von Rainer Liedtke, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 9 [15.09.2005], URL: http://www.sehepunkte.de/2005/09/7391.html.
Michał Szulc: Emanzipation in Stadt und Staat. Die Judenpolitik in Danzig 1807-1847 (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; Bd. XLVI), Göttingen: Wallstein 2016, 352 S., ISBN 978-3-8353-1853-3, EUR 34,90
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