Der kurzzeitige Reichsinnenminister Wilhelm Sollmann zählte Ebert zufolge in der Weimarer Republik zur zweiten Garnitur der Sozialdemokratie. In Köln wirkte er von 1917 bis 1933 als kongenialer Konterpart von Oberbürgermeister Konrad Adenauer. Ebert legt eine Biografie über den "sozialdemokratische[n] Individualist[en]" vor, der in Weimar "zu den markantesten Vertretern seiner Partei" gehört habe, auch wenn er "heute weitgehend unbekannt" sei (9). Dabei habe Sollmann als "Querdenker" Konzepte entwickelt, um die SPD gegenüber dem republikanischen Bürgertum zu öffnen, den Sozialismus mit der Religion und den Kirchen zu versöhnen und um das Verhältnis seiner Partei zu Staat und Nation zu entkrampfen (13).
Die Biografie folgt der klassischen Epocheneinteilung. Zum Kaiserreich berichtet Simon, dass der aus einem kleinbürgerlich-ländlichen Umfeld stammende Sollmann das Gymnasium nach der Obertertia verließ. Seit 1900 in (Köln-)Kalk lebend absolvierte er eine kaufmännische Lehre. Der 1911 von der Kirchenleitung abgesetzte Pfarrer Carl Jatho prägte mit seinem liberalen, undogmatischen Christentum das CVJM-Mitglied Sollmann. Dennoch trat er 1908 aus der Kirche aus. Er begeisterte sich für die Lebensreformbewegung und schloss sich 1902 der Abstinenzlerbewegung - fortan lebte er abstinent - und 1907 der Arbeiterjugendbewegung an.
1911 begann seine politische Karriere mit der Berufung zum Redakteur der "Rheinischen Zeitung". 1917 gelangte er in den Stadtrat. In der Novemberrevolution stellte sich Sollmann, der die Revolution nicht gewollt hatte, in Köln an die Spitze der Bewegung, um sie so zu kontrollieren.
In Köln liefen nach 1919 die politischen Fäden in seiner Hand zusammen. Er gehörte der Nationalversammlung an, übernahm den Fraktionsvorsitz im Stadtrat und amtierte seit 1920 als Chefredakteur. Konsequent vertrat er den Ansatz, die SPD müsse, wenn eben möglich, Verantwortung übernehmen, um die Lebenssituation der arbeitenden Bevölkerung zu verbessern. Auf kommunalpolitischer Ebene suchte er deshalb eine enge Kooperation mit Adenauer. Bei der Stadtratswahl 1924 strafte die Wählerschaft allerdings seine Kommunalpolitik ab. Die SPD verlor ca. drei Viertel ihrer Mandate.
Im Reich machte sich Sollmann einen Namen als Kämpfer gegen jedwede separatistische Bestrebungen. So verdankte er seine Berufung zum Reichsinnenminister 1923 denn auch vor allem seinem Image als "Sprachrohr der besetzten Gebiete" (231). Frühzeitig setzte er darauf, die Arbeiterklasse mit der Nation auszusöhnen. Er engagierte sich im 1924 gegründeten Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, das er als ein Instrument der abwehrbereiten Demokratie verstand, und in dem idealtypisch die bürgerlichen Parteien zur Verteidigung der Demokratie zusammenarbeiten sollten. Diesem Kooperationswunsch standen allerdings kulturelle, oder genauer religiöse Dissense entgegen. Sollmann führte an, dass nicht Christentum und Sozialismus sondern Christentum und Kapitalismus sich in Gegnerschaft gegenüberstünden. So unterstützte er in Köln die Gruppe der religiösen (katholischen) Sozialisten.
Im Reichstag, aber auch in den Wahlkämpfen profilierte er sich stets als entschiedener Gegner der NSDAP. Ab 1930 setzte er "im Stile eines linken Populismus stärker auf die nationale Karte" (402) und bediente sich "einer Rhetorik, wie man sie von den bürgerlichen Rechten und Nationalsozialisten" kannte (404). Am 9. März 1933 misshandelten ihn SA- und SS-Horden. Bald darauf gelang ihm die Flucht ins Saargebiet. Am 26. April 1933 erfolgte seine Wahl in den Parteivorstand. Sollmann agierte allerdings im Saarland nicht nur räumlich, sondern auch politisch weitgehend isoliert. Er forderte einen "Volkssozialismus", unter dessen Dach sich nicht nur neue Wählerschichten sammeln, sondern auch das Nationale eine wesentlich stärkere Rolle spielen sollte. So unterhielt er Kontakte zu Otto Strasser, der einen Nationalsozialismus auf marxistischer, aber auch antisemitischer Grundlage propagierte. 1937 emigrierte Sollmann in die USA, die er sehr bald als seine neue Heimat titulierte. Seit dem 10. Juni 1943 war Sollmann US-Bürger.
Ebert verknüpft in seiner Biografie den state of the art zur Geschichte der Sozialdemokratie in der Weimarer Republik mit der Biografie Sollmanns und will so dessen Beiträge zur Entwicklung der SPD aufzeigen. Dass er es dabei an etlichen Stellen an der notwendigen reflektierenden Distanz fehlen lässt, darauf hat schon sehr zu Recht Knud Andresen hingewiesen. [1] Hier sei darüber hinaus die Frage aufgeworfen, ob nicht die Einnahme einer anderen Untersuchungsperspektive einen höheren Erkenntnisgewinn gebracht hätte. Wirkungsmittelpunkt Sollmanns waren eindeutig Köln bzw. das Rheinland. Die Berufung zum Reichsinnenminister - das Amt übte er weniger als 90 Tage aus - verdankte er im Kern nur seinem antiseparatistischen Profil. Nach der Lektüre der Biografie erscheint Sollmann letztlich dann doch nur als rheinische Regional- bzw. Kölner Lokalgröße, die auch auf der Reichsebene agierte und dort Einfluss auf die Ausrichtung der SPD zu nehmen versuchte. Seine Ansätze stellten aber im Kern Reflexe auf die Probleme dar, vor die er sich in Köln gestellt sah. So waren seine Bemühungen um eine stärkere Entideologisierung der SPD der Tatsache geschuldet, dass in Köln eben nicht nur eine Arbeiterbewegung agierte sondern deren gleich drei, d.h. neben der sozialdemokratischen zusätzlich eine kommunistische und vor allem eine katholische bzw. christliche Arbeiterbewegung. Den Blick auf diese Konkurrenz lässt die Arbeit gänzlich vermissen. So war Sollmann eben nicht nur darum bemüht, Brücken zum demokratieaffinen Bürgertum zu schlagen, sondern zuvörderst zur katholischen Arbeiterschaft, die den Großteil der Kölner und rheinischen Wählerschaft ausmachte.
Letztlich scheiterte Sollmann aber an dieser Aufgabe. Ein Durchbruch in diese Wählerschichten gelang nicht. Strukturelle Gründe hierfür liegen auf der Hand. Doch im Rahmen einer Biografie drängt sich auch die Frage auf, welchen Anteil die Person Sollmann an diesem Scheitern hatte. Fehlte es womöglich ihm, der immer wieder beklagte, dass es der SPD an charismatischen Führungspersönlichkeiten mangele, selbst nicht an dieser Gabe? Ebert belegt dies indirekt selbst, indem er Sollmanns 'Bruder im Geiste' Wilhelm Keil zitiert, der diesem zwar großes Redner- und Journalistentalent zuschrieb, bei ihm aber eine Menschenzugewandtheit vermisste. Zu vermuten ist auch, dass es ihm aus Sicht der Wählerschaft an innerer Glaubwürdigkeit mangelte. Denn ob ein lebenslanger Abstinenzler, ein Asket und wenig empathischer und nicht kontaktfreudiger Politiker im Rheinland mit seiner spezifischen (Feier-)Kultur als Wählermagnet wirkte, darf bezweifelt werden. Die Frage ist auch, ob Sollmann die von ihm geforderte Entideologisierung aus der Sicht der Wählerschaft überzeugend vertreten konnte? Zumindest bei den katholischen Wählern dürften seine Bemühungen, Brücken zum Katholizismus bzw. zum Christentum zu schlagen, auf Skepsis gestoßen sein, da sie von einem Politiker ausgingen, der 1908 den Kirchenaustritt vollzogen hatte und der in Köln die Bestrebungen zur Errichtung freier Schulen vehement unterstützte.
Trotz all dieser Kritik legt Ebert aber eine grundsolide Arbeit zur Biografie Wilhelm Sollmanns vor, die - gleichsam en passant - den aktuellen Stand zur Geschichte der Weimarer Sozialdemokratie referiert und schon deshalb lesenswert ist.
Anmerkung:
[1] www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22933.
Simon Ebert: Wilhelm Sollmann. Sozialist-Demokrat-Weltbürger (1881-1951) (= Historisches Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung. Reihe: Politik- und Gesellschaftsgeschichte; Bd. 97), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2014, 605 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-8012-4223-7, EUR 58,00
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