Auch in Italien haben sich Studien zu Kathedralkapiteln in den letzten beiden Jahrzehnten offensichtlich vermehrt. Auf der einen Seite sind mehrere Beiträge erschienen, die bislang unerschlossene Bestände von Domkapiteln in Form von Regesten oder Editionen zugänglich gemacht haben. [1] Auf der anderen Seite lassen sich zahlreiche Aufsätze und Monographien verzeichnen, die auf der Grundlage von quellenkundlichen Arbeiten rechts-, wirtschafts-, liturgie- und sozialgeschichtliche Aspekte dieser Institutionen untersucht und damit einen Beitrag zum besseren Verständnis des kirchlichen und städtischen Lebens mittelalterlicher Bistümer und Städte geleistet haben. [2] Denn stärker als die häufig aus anderen Regionen kommenden Bischöfe verstanden sich die Kathedralkanoniker als die eigentlichen Hüter des Patrimoniums und der spezifischen Traditionen ihrer Bischofskirche und waren auch diejenigen, die aufgrund ihrer lokalen Herkunft mit den kommunalen Autoritäten am häufigsten interagierten. Ein Zeichen für die Vitalität dieses Forschungsfeldes ist das vom italienischen Ministerium für Kulturgüter (Ministero per i Beni e le Attività Culturali) in Zusammenarbeit mit dem Verein kirchlicher Archive Italiens (Associazione archivistica ecclesiastica) herausgegebene Werk Guida agli archivi capitolari d'Italia. [3]
Während aber Untersuchungen zu nordalpinen sowie oberitalienischen Kathedralkapiteln von dem vergleichsweise beneidenswerten Überlieferungs- und Aufbewahrungszustand des Archivgutes begünstigt wurden, befindet sich die Forschung zu den Domkapiteln zahlreicher mittel- und unteritalienischer Bistümer noch in einem Frühstadium. Vor diesem Hintergrund ist der vorliegende Band mit besonderer Freude zu begrüßen. Dabei handelt es sich um eine von Giovanni Pesiri herausgegebene Edition der ältesten im Archiv des Domkapitels zu Fondi im südlichen Latium verwahrten Urkunden (1140-1494). Über die Schwierigkeiten, die das Unternehmen von Anfang an begleitet haben, berichtet der Herausgeber im Vorwort (VII-XII): Nach einigen Vorarbeiten von Pietro Fedele und seinem Schüler Giovanni Mansillo musste das Erschließungsprojekt aufgrund der Kriegshandlungen in den 1940er Jahren abgebrochen werden. Es wurde erst 1986 wieder ins Leben gerufen, als sich der Herausgeber der Neuordnung und Katalogisierung der seit Jahrzehnten verwahrlosten Bestände des Kapitelarchives widmete und in einem noch mit Hakenkreuzen versehenen Jutesack 244 mittelalterliche und frühneuzeitliche Pergamenturkunden fand, von denen 236 in den darauffolgenden Jahren mithilfe einer Förderung des italienischen Ministeriums für Kulturgüter restauriert werden konnten. Die 116 ältesten Dokumente (1140-1494) bilden den Gegenstand des vorliegenden Bandes.
Der eigentlichen Urkundenedition geht eine umfangreiche Einleitung des Herausgebers voran (VII-LIX), die sich aus sechs Unterkapiteln zusammensetzt. In einem ersten Abschnitt werden einige der bedeutsamsten Etappen der Geschichte der Bischofskirche von Fondi von deren im Dunkel liegenden Ursprung bis zum 15. Jahrhundert skizziert (XII-XXXI). Geschildert werden insbesondere die gelehrte Kontroverse über das ursprüngliche Patrozinium der Kathedralkirche (XII-XIX), die ab dem 13. Jahrhundert dokumentierte Etablierung des Kultes des Abtes Honoratus als Stadtpatron (XIX-XXII) sowie die Stellung Fondis zur Zeit des Ausbruchs des Großen Abendländischen Schismas (1378), als sich der Gegenpapst Clemens (VII.) und seine Kardinäle acht Monate lang im Palast des Grafen von Fondi Onorato Caetani aufhielten und die Fundaner Bischofskirche als "päpstliche Kathedralkirche" genutzt wurde (XXII-XXVII). Zwei kürzere Unterkapitel behandeln die Entwicklung im 15. Jahrhundert (XXVII-XXIX) und die Kapellen und den Friedhof der Bischofskirche (XXIX-XXXI). Das zweite Einführungskapitel beschäftigt sich mit der Kollegiatskirche Santa Maria de Platea (XXXI-XXXIII) und deren stets enger Beziehung zum Domkapitel: Gerade aus diesem engen Verhältnis sei bei einigen neuzeitlichen Gelehrten die Meinung entstanden, dass die Kathedralkirche ursprünglich nicht ein Stefans-, sondern ein Marienpatrozinium trug. Behandelt werden im dritten Kapitel die Zusammensetzung des Urkundencorpus und die zahlreichen Stationen, die das Archivgut im Laufe der Jahrhunderte bis zum heutigen Stand durchlaufen musste (XXXIII-XXXIX). Das Erkenntnispotenzial der erschlossenen Dokumentation kommt vor allem in den letzten Einführungskapiteln zum Ausdruck, indem mithilfe einiger Urkunden bestimmte Aspekte der Geschichte der Kirche, der Stadt und der Grafschaft Fondi erhellt werden. So wird im vierten Abschnitt die Liste der Fundaner Bischöfe an einigen Stellen ergänzt und berichtigt (XL-XLIII). Das fünfte Kapitel behandelt drei Komponenten der spätmittelalterlichen Frömmigkeit in Fondi: die Oblaten, die Reklusinnen und die Bruderschaften (XLIII-LI). Der sechste und letzte Einführungsabschnitt liefert neue Erkenntnisse über einzelne Konsuln, Grafen und Herren von Fondi (LI-LIX).
Im Hauptteil des Bandes befindet sich schließlich die Edition der 116 ältesten Urkunden des Domkapitels zu Fondi (1-323), die durch ein Register der Urkundenaussteller eingeführt wird (LXI-LXIII). Ediert wurden nicht nur die Urkunden, die das Domkapitel unmittelbar betrafen, sondern auch Dokumente weiterer kirchlicher Institutionen, wie zum Beispiel der Kollegiatskirche Santa Maria de Platea und dreier städtischer Pfarrkirchen, die im Laufe der Jahrhunderte ins Archiv des Kathedralkapitels gelangt sind. Formell orientiert sich die vorliegende Edition an den Richtlinien des Istituto Storico Italiano per il Medio Evo: Der laufenden Nummer folgen ein auf italienisch verfasstes Regest, Angaben zur Überlieferungsart und Signatur, Auskünfte zu mittelalterlichen und neuzeitlichen Vermerken und Notizen, Erhaltungszustand, Hinweise auf eventuelle Drucke, Regesten und Erwähnungen in der Sekundärliteratur sowie Erläuterungen zu den in der jeweiligen Urkunde erwähnten Personen und Orten. In der Edition selbst werden Abkürzungen aufgelöst und in runde Klammern gesetzt, Ergänzungen von nicht lesbaren Stellen befinden sich in eckigen Klammern, vom Editor vorgenommene Korrekturen sind in spitzen Klammern gesetzt. Der Zeilenwechsel wird durch Schrägstriche kenntlich gemacht. Gedruckt wurden im Anhang auch zwei im späten 14. beziehungsweise frühen 15. Jahrhundert angefertigte Inventare des unbeweglichen und beweglichen Vermögens der Fundaner Bischofskirche, die heute im Klosterarchiv von Montecassino verwahrt werden (325-332). In einem weiteren Anhang wurden die 54 in den gedruckten Urkunden vorkommenden signa regesta nachgebildet (333-349) - was vor allem aus Sicht der Notariatsforschung begrüßenswert ist. Der Band wird durch ein Quellen- und Literaturverzeichnis (351-366) sowie ein Personen- und Ortsregister abgeschlossen (367-433).
Mit dem Werk von Giovanni Pesiri liegt eine sehr saubere Editionsarbeit vor, die ein altes Forschungsdesiderat des Istituto Storico Italiano per il Medio Evo schließt und den Urkundenbestand eines Domkapitelarchives zugänglich macht, der sowohl in der Italia Sacra als auch im Codex diplomaticus Cajetanus keine Berücksichtigung fand. Auf das im vorliegenden Band gedruckte Material werden nicht nur Landeshistoriker und Heimatforscher mit Gewinn zurückgreifen können, sondern auch Historiker, die sich für die Macht-, Rechts-, und Wirtschaftsverhältnisse einer strategisch wichtigen Grenzregion interessieren, die im steten Spannungsfeld zwischen unteritalienischem Königreich, Papsttum und lokalem Adel lag.
Anmerkungen:
[1] vgl. beispielsweise: Emanuela Lanza: Le carte del capitolo della cattedrale di Verona, 2 Bde., Rom 1998-2006 (Fonti per la storia della terraferma veneta; 13, 22); Emanuele Curzel: I documenti del Capitolo della Cattedrale di Trento. Regesti (1147-1303), Trient 2000 (Rerum tridentinarum fontes; 6); Antonio Ciralli / Vittorio De Donato: Le più antiche carte del Capitolo della cattedrale di Benevento (668-1200), Rom 2002 (Regesta Chartarum; 52); Valeria Leoni: Il codice diplomatico della cattedrale di Cremona: documenti per la storia della chiesa maggiore cremonese e del suo capitolo dal IX secolo al 1262, Cinisello Balsamo 2010; Jochen Johrendt: Urkundenregesten zum Kapitel von St. Peter im Vatikan (1198-1304), Vatikanstadt 2010 (Studi e testi; 460).
[2] vgl. beispielsweise: Emanuele Curzel: I canonici e il capitolo della cattedrale di Trento dal XII al XV secolo, Bologna 2001 (Pubblicazioni dell'Istituto di scienze religiose in Trento. Series maior, 8); Francesco De Luca: Il capitolo cattedrale di Lecce e il suo archivio, Lecce 2005 (La storia custodita; 2); Jochen Johrendt: Die Diener des Apostelfürsten: das Kapitel von St. Peter im Vatikan (11.-13. Jahrhundert), Berlin 2011 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom; 122).
[3] Guida degli Archivi capitolari d'Italia, 3 Bde., hg. v. Salvatore Palese [u.a.], Rom 2000-2006 (Pubblicazioni degli archivi di stato. Strumenti;146, 172).
Giovanni Pesiri (a cura di): Pergamene nell'archivio del Capitolo Cattedrale di San Pietro in Fondi (1140-1494) (= Fonti per la storia d'Italia Medievale; 59), Roma: Istituto Storico Italiano per il medio evo 2015, LXIII + 435 S., ISBN 978-88-98079-33-9, EUR 40,00
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