Nach neunzig Jahren ist er nun endlich erschienen, der Band, der die so lange als kanonisch angesehene Metternich-Biografie des Antidemokraten Heinrich von Srbik ersetzen kann. Srbik ist der Autor, gegen den Wolfram Siemann bewusst und vorsätzlich anschreibt. Zu diesem Zweck hat er ein Jahr lang im Prager Nationalarchiv den Metternich-Nachlass gesichtet, von dem bekannt war, dass in der Edition des Metternich-Sohnes Richard Partien unterdrückt worden waren. Insgesamt stützt sich Siemann auf eine weit breitere Quellenbasis, nicht nur aus Prag, sondern auch aus dem Wiener Haus-Hof- und Staatsarchiv, als Srbik sie benutzt hat.
Ähnlich wie Ernst Engelberg zum Zweck seiner Bismarckbiografie ist auch Siemann tief in die Familiengeschichte der Metternichs eingestiegen, die als rheinische Herren schon während des Dreißigjährigen Krieges für Kaiser und Katholizismus Partei ergriffen hatten und dadurch Gelegenheit erhielten, das böhmische Inkolat zu erwerben. In der Bibliothek von Schloss Königswart in Böhmen hat Siemann Einblick in die Bildungseindrücke des 19-jährigen Metternich genommen und er zeigt uns, in welchem Ausmaß Metternich den jakobinischen Radikalismus bei seinem Tutor und seinen Professoren hatte studieren können.
Den Vater Franz Georg Graf von Metternich zeichnet Siemann als geschickten, pragmatischen und von den Habsburgern hoch geachteten Diplomaten, der den hochbegabten Sohn in seine Schule nahm. In London studierte der junge Metternich die Institutionen der balancierten britischen Verfassung und arbeitete Burkes Schrift gegen die Französische Revolution in ihrer Erstausgabe durch. Für seinen ersten Gesandtenposten in Dresden 1801 schrieb sich Metternich die Instruktion selbst, was allerdings, anders als Siemann meint (204), nicht außergewöhnlich war.
Als Anhänger eines Europas des Rechts konnte Metternich 1801 wie 1814 die polnischen Teilungen nur missbilligen, er sprach Polen die Rolle eines Pufferstaats "zwischen drei großen Reichen" zu. Die Verhandlungen in der Diplomatenkarriere Metternichs auf den Stationen Berlin, Paris und darüber hinaus hat Siemann überwiegend aus der Sicht Metternichs und der österreichischen Überlieferung geschildert. Angesichts der enormen Fülle an Literatur erscheint dies legitim. Auf seinem Pariser Botschafterposten hat Metternich Napoleon, den Herrn Europas, aus der Nähe studiert. In der Rückschau sah sich Metternich als den Mann, der berufen war, Napoleon zu stürzen - Siemann ist geneigt, das ebenso zu sehen.
Das Buch umfasst 983 Seiten und doch erscheint nichts darin nebensächlich. Mehr noch, die internationale Politik vor allem der Jahre nach 1815 ist geradezu knapp dargestellt, um Raum zu schaffen für besondere Kapitel, in denen der Persönlichkeit Metternichs die Gerechtigkeit zuteilwerden soll, die ihm die Geschichtsschreibung so lange verweigert habe. Eines dieser Kapitel gilt Metternich als dem "Frauenversteher und Majoratsherrn". Hier verteidigt Siemann den Minister gegen die Klischees vom Schürzenjäger und Leichtfuß und zeigt in einer manchmal etwas schulmäßigen gendertheoretischen und literaturwissenschaftlichen Abhandlung, dass dieser nicht nur den Krieg und damit zwangsläufig auch den Kriegstreiber Napoleon verabscheute, sondern auch die Berge von Briefen an seine Seelenfreundinnen gebrauchte, um sich seelisch zu regulieren. Als Majoratsherr dagegen war Metternich um die Fortpflanzung der Familie besorgt und musste hier, angesichts des vorzeitigen Todes von sechs Kindern, seinen größten Kummer erleiden.
In einem anderen Kapitel sehen wir Metternich als den Ökonomen, der als Feudalherr begann, die Lastenablösung vorantrieb und als frühindustrieller Fabrikant endete. Volkswirtschaftlich fühlte er sich Friedrich List verbunden. Dem Deutschen Zollverein wäre Metternich am liebsten beigetreten (852), zumindest habe er den Freihandel auf der Basis des Artikels XIX der Deutschen Bundesakte angestrebt. Hierzu notwendige handelspolitische Zugeständnisse hat Siemann zufolge die klassenegoistische Einflussnahme böhmischer Grundbesitzer auf die große Politik verhindert. Dass Metternich, obwohl Haus-, Hof- und Staatskanzler, die österreichische Politik bei Weitem nicht so dominieren konnte, wie man ihm das immer zugetraut hat, demonstriert Siemann in einer besonders für den deutschen Leser verdienstlichen Schilderung der Verfassungszustände in der Habsburger Monarchie.
Nach der Lektüre dieses Buches glauben wir bereitwillig, dass Metternich in seiner Außenpolitik immer auf den Frieden unter größtmöglicher Bewahrung des Völkerrechts hingearbeitet hat. Wir erfahren allerdings nichts über die Liquidierung des in der Wiener Kongressakte verbrieften Status der Freien Stadt Krakau im Jahr 1846. Dass Metternich 1821 in Neapel dem finstersten Unterdrückungsregime des westlichen Europa an die Macht verhalf, zählt zumindest zu den Kollateralschäden seiner Sicherheitspolitik. Schwer zu verstehen ist es aber vor allem, dass Metternich, den Siemann mit seinem politischen Horizont so nahe bei den deutschen Vormärzliberalen verortet hat (166), und der, wenn er kein Österreicher wäre, am liebsten ein Engländer sein wollte, es nicht vermocht hat, seine Anstrengungen mit den Gemäßigten unter diesen Liberalen zu harmonisieren und dadurch der von ihm befürchteten Revolution vorzubeugen. Dazu hätte er beispielsweise mit seinem preußischen Pendant Hardenberg Hand in Hand arbeiten müssen, statt die von Hardenberg fertig ausgearbeitete preußische Verfassung durch persönliche Einflussnahme auf den König zu Fall zu bringen. Dass Hardenberg, der die Bedrohung durch die "Demagogen" und den Terrorismus kaum anders einschätzte als Metternich, 1819 gebrechlich und handlungsunfähig gewesen sei, ist ein Topos der Denunziation aus dem Kreis der Berliner Gegner Hardenbergs, den Siemann hier unbesehen übernimmt. Kurzum: Der Effekt von Metternichs Taten straft immer wieder seine rechtstreuen und liberalen Bekenntnisse Lügen. Das ist umso bemerkenswerter, als diese Bekenntnisse oftmals gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren.
Als eine Ursache für vormärzlichen Radikalismus und "demagogische Umtriebe" darf man mit Sicherheit die wirtschaftliche Stagnation und die prekäre Existenz zahlreicher Akademiker des Vormärz betrachten. Die Staaten Europas, von Napoleons Gewaltherrschaft, seinen Konskriptionen, Einquartierungen und Kontributionen, ausgeblutet, konnten weder genügend Stellen im öffentlichen Dienst anbieten noch ihren Aufgaben bei der Abfederung des sozialen Wandels und der Förderung von Wirtschaft und Technik nachkommen. Dies im Zusammenhang gezeigt zu haben, ist ein großes Verdienst dieses Buches, das so an manchen Stellen über das Biografische hinausgeht. Heinrich von Srbik jedenfalls ist verdrängt und Wolfram Siemann wird seinen Platz als Autorität einnehmen.
War Metternich "Stratege und Visionär", wie der Untertitel besagt? Er war es ohne Zweifel, und wir dürfen seine Politik der Jahre 1809-1813 tatsächlich als ein bloßes Appeasement betrachten, das er über den Haufen warf, sobald der Moment für die große Allianz gegen Napoleon gekommen war. Der Abstand zwischen Wollen und Vollbringen war freilich auch bei Metternich, wie bei jedem Politiker, ein großer.
Wolfram Siemann: Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie, München: C.H.Beck 2016, 983 S., ISBN 978-3-406-68386-2, EUR 34,95
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