Das fünf Studien enthaltende Buch von Udi Greenberg ist Teil einer in den vergangenen zehn Jahren erstaunlich rasch angestiegenen Zahl an ideengeschichtlicher Literatur, die es sich vorgenommen hat, die Weimarer Republik neu zu bewerten. Dies allerdings nicht länger durch eine Gesamtgeschichte der Jahre 1918 bis 1933, wobei diese Begrenzung sich sowieso nur an der offiziellen Dauer der ersten deutschen Demokratie orientiert, sondern durch bislang nur selten oder gar nicht beachtete Aspekte und Fragestellungen. [1]
Dazu gehört die Untersuchung der Einmischung von in der Weimarer Republik geprägten Intellektuellen in die internationale Politik nach 1945. Mustergültig ist das etwa von Tim B. Müller geleistet worden, der sich ausführlich über die geheimdienstlichen Aktivitäten vor allem von Herbert Marcuse in den USA während und nach dem Zweiten Weltkrieg annahm. [2] Seine aus den Quellen gearbeitete Monographie erinnert daran, dass die Vorstellungen über Emigranten, ihre politischen Positionen und deren Umsetzung sich keinesfalls einem "bloß" aus Erfahrungen und deren Analyse zusammengesetzten Amalgam orientieren dürfen, wie es die ältere Literatur noch häufig suggerierte. Besonders die Figur des "Renegaten" fand darin besondere Beachtung, der, geläutert durch die Weltläufe, die Konversion vom linken Utopisten hin zum harten Realisten als Erweckung begriff.
Schon die Auswahl von Greenbergs fünf Protagonisten - den von ihren ökonomischen, intellektuellen und religiösen Herkünften her sehr verschiedenen Politikwissenschaftlern Carl J. Friedrich, Ernst Fraenkel, Waldemar Gurian, Karl Loewenstein und Hans Morgenthau - kann als Antwort auf die oben skizzierte ältere Forschung gelesen werden.
Die Kernthese, die das Buch durchzieht und die es zu belegen sucht, lässt sich in aller gebotenen Kürze wie folgt zusammenfassen: die exemplarisch ausgewählten Emigranten haben es verstanden, ihre politischen Sensibilitäten bereits in den späten dreißiger Jahren in programmatische Entwürfe zu übersetzen, die dann im Zweiten Weltkrieg den erst nach dem Ende des Krieges in aller Schärfe hervorbrechenden Ost/West-Gegensatz vorhersahen. Anschließend halfen sie diese Einsichten als Teil des "American Century" (24 und öfter) zu begreifen und als Exportschlager in die sich formierende Bundesrepublik zu übertragen; letzteres teils durch die Remigration bezeugend und verstärkend oder durch Beraterverträge mit Präsidenten oder bekannten Think Tanks. Zu guter Letzt habe sich in der Aufnahme ihrer Ideen und in der damit einhergehenden Selbstinterpretation der fünf Hauptdarsteller eine Art Rechtfertigung ihres früheren, während der Weimarer Jahre geprägten Denkens ergeben, das sich nunmehr als immer schon antitotalitär und antikommunistisch verstehen lasse. Das "American Century" könne insofern als "Weimar Century" begriffen werden, denn bis zum offiziellen Ende des Kalten Krieges habe sich das seinerzeit dort fundierte Zweifrontendenken als entscheidend erwiesen.
Diese Kernthese wird von Greenberg ganz aus dem Arsenal politiktheoretischer und -praktischer Fragen her gewonnen und begründet. Das ist sein gutes Recht, denn schließlich waren alle, das eint die Genannten in der Tat, bereits in ihrem ersten, Weimarer Leben auf die Überwindung dieser aus ihrer Perspektive sowieso nur künstlichen, weil aus der Philosophie übernommenen Trennung hin ausgerichtet. Natürlich weiß der Autor, dass er seinen "Helden" viel von ihrer geistigen Statur nimmt, denn Politikwissenschaftler in einem technischen Sinne waren und wollten die Genannten allesamt nie sein. Ihnen war die Universalität ihrer Aussagen und deren Begründung ein quasi natürlicher Zug, in jedem Falle ein unbedingt erhaltenswertes Erbe Weimars. Gleichwohl scheint die Begrenzung auf die Theorie/Praxis-Dimension ihrer Schriften und Aktivitäten gerechtfertigt, denn in ihnen kommt gerade die von Greenberg zurückhaltend bis äußerst skeptisch eingeschätzte Macherrolle der Big Five zum Vorschein. Und so ist seine grundsätzlich skeptische, zumeist historisierende Haltung etwa gegenüber dem gründlich erforschten Morgentau oder dem in Deutschland gut bekannten Fraenkel erfrischend zu lesen. Sie werden nämlich als durchaus widersprüchliche, immer wieder situativ agierende und reagierende Intellektuelle erkennbar. Ein weiterer Vorteil der Arbeit ist, was schlichtere Gemüter gewiss ausgenutzt hätten, dass Greenberg den Bezug auf Carl Schmitt nicht weiter in den Mittelpunkt stellt. Das wäre bei den meisten aufgrund persönlicher Bekanntschaften und systematischer Elemente leicht möglich gewesen. Es sei jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich inzwischen eine umfangreiche Literatur ausgebildet hat, die "Familienähnlichkeiten" mit Schmitt als Sorglosigkeit im Umgang mit Transformationsleistungen der betreffenden Emigranten (gravierend geschieht das mit Franz L. Neumann, Otto Kirchheimer und immer wieder mit Guderian) auslegt. Bisweilen gewinnt man den Eindruck, sprichwörtlich "alle" waren Schmittianer. Das Gegenteil ist der Fall.
Der Autor lässt zudem deutlich erkennen, dass ihm Loewensteins "Militant Democracy"-Idee und der moralische Rigorismus mit dem er sie vertrat, weitaus weniger behagt als Morgenthaus "Realismus"-Konzept. Die pro- und contra-Argumente mögen Spezialisten genauer untersuchen, insgesamt ist Greenberg eine gute, in ihren irritierenden Einseitigkeiten klug provozierende Arbeit gelungen. Das kann von vielen jüngeren, vor allem biographisch orientierten Beiträgen zur Ideengeschichte Weimars nicht behauptet werden.
Anmerkungen:
[1] Siehe dazu Thomas Meyer: Die Weimarer Republik, in: Merkur 69 (2015), 60-67.
[2] Tim B. Müller: Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg, Hamburg 2010.
Udi Greenberg: The Weimar Century. German Émigrés and the Ideological Foundations of the Cold War, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2015, 288 S., ISBN 978-0-691-17382-5, USD 29,95
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