In seiner klar strukturierten und gut verständlich geschriebenen Dissertation geht Christopher Landes der Frage nach, welche Netzwerke und Austauschbeziehungen zwischen Akteuren der Armenfürsorge europäischer Länder zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg bestanden. Dabei legt er den Fokus auf die transnationalen Beziehungen unterhalb der Ebene der Staatsregierungen, d.h. der Fürsorgeexperten aus kirchlichen, städtischen, politischen und privaten Einrichtungen und Vereinen.
Im ersten Teil zeichnet Landes anhand von Protokollen und Berichten die Entwicklung der internationalen Fürsorge-Kongresse nach und zeigt zugleich die Schwierigkeiten, eine Kontinuität in das Kongresswesen zu bringen. Die erste Vernetzungs-Phase bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ist demnach gekennzeichnet durch einen Vergleich der unterschiedlichen nationalen Fürsorgesysteme, wobei die jeweiligen Vertreter durchaus in Konkurrenz zueinander ihr System repräsentierten. Fürsorge-Experten aus dem Deutschen Reich beteiligten sich an diesem Austausch noch kaum - weniger aufgrund einer nationalistisch geprägten Abschottung, als vielmehr eines eingeschränkten Wahrnehmungshorizonts der deutschen Fürsorgelandschaft (50f.). Die zweite Phase von 1900 bis 1910 lässt sich als Hochphase der Internationalen Kongresse für Armenpflege und Wohltätigkeit bezeichnen, wobei Frankreich weiterhin die treibende Kraft hinter der Vernetzung war. Mit der Bildung des Comité international gelang erstmals eine Verstetigung und Professionalisierung des Austausches. In dieser Zeit trat ein produktiver Diskurs über die jeweiligen Fürsorgepraktiken an die Stelle der nationalen Konkurrenz. Zugleich bewirkte das Comité in dieser Phase als machtvolles und elitäres Gremium auch eine Abschottung gegenüber neuen Strömungen und Konzepten. In dieser Abwehrhaltung sieht Landes den Bedeutungsverlust des Netzwerkes in der dritten Phase von 1910 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Während das Comité in Denkmustern einer überkommenen "individualisierenden und fallorientierten Armenfürsorge" (155) verharrte, organisierten sich diejenigen anderweitig, die in diesem Netzwerk kein Gehör fanden: die Fachwissenschaftler, die Vertreter einer wohlfahrtsstaatlichen Ausrichtung von Vorsorge und Versicherung sowie die Sozialreformerinnen, die sich eigene Netzwerke innerhalb der Frauenbewegung schufen.
Im zweiten Teil der Arbeit wird an zwei Fallbeispielen sichtbar, worin die eigentliche Bedeutung des Netzwerkes bestand. So schafften es dessen Akteure, das Thema Ausländerfürsorge auf die politische Agenda zu setzen. Bemerkenswert ist dabei, gerade im Vorfeld des Ersten Weltkrieges, der Wille zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und die Betonung eines gemeinsamen, abgestimmten Vorgehens. Im zweiten Beispiel, der Auseinandersetzung um maßregelnden Arbeitszwang als Teil einer Fürsorgepolitik, wird die Debatte zwischen Befürwortern und Gegnern von Arbeitshäusern und anderen sozialdisziplinierenden Maßnahmen dargestellt. Dabei wird sichtbar, welche erbitterten Kämpfe um die Deutungshoheit auf den Kongressen und über Publikationen ausgetragen wurden. In diesem Teil zeigen sich auch die Möglichkeiten und ebenso die Grenzen des Handelns der Akteure: Den Fürsorgeexperten gelang es, Themen international sichtbar zu machen; sobald die Themen jedoch bei den nationalen Entscheidungsträgern angekommen waren und in konkrete Verhandlungen z.B. über Gesetzesreformen mündeten, blieben die transnationalen Netzwerke außen vor.
Im dritten Teil, der sich v.a. auf die Auswertung von Publikationen der Fürsorgevertreter stützt, betrachtet Landes grundlegende Konzepte und Ideen der Fachwelt sowie deren Verbreitung und Diskussion innerhalb der Netzwerke. In diesen spiegeln sich v.a. die Debatten um unterschiedliche Herangehensweisen in der Praxis wider, etwa der Kontroverse zwischen vorbeugender kollektiver Wohlfahrt und individueller fallweiser Unterstützung oder der um eine Entlohnung und zugleich Professionalisierung der lokalen Armenfürsorger. An den verschiedenen Teilaspekten lässt sich ablesen, auf welchen Wegen die unterschiedlichen Konzepte, Erfahrungen und Ideen unter den Akteuren zirkulierten und zu einer gemeinsamen Wissensbasis führten.
Im vierten Teil schließlich verdeutlicht Landes anhand von Fürsorgediskursen, wie die Fürsorgeexperten ein Bild von Armut und von Armen konstruierten, das wiederum in die Praxis hineinwirkte. Dabei war der Ausgangspunkt dieser Konstruktionen weniger die reale Situation der Armen als vielmehr die bürgerliche Existenz der Experten, die jede Normabweichung als Bedrohung empfanden. Die Diskurse geben deshalb v.a. einen Einblick in die Normalitätsvorstellungen der Theoretiker und Praktiker der Fürsorge, während die Bedürftigen in diesen Diskursen immer nur Objekte der Betrachtung blieben. Hier zeigt sich auch, wie sich das Fürsorgeverständnis unmittelbar auf das Armutsverständnis zurückführen lässt: Wenn etwa eine wissenschaftliche Definition von Armut abgelehnt wird, die strukturelle und sozioökonomische Aspekte einbezieht, folgt hieraus fast zwangsläufig ein Fürsorgeverständnis, das explizit auf individuelle Fallprüfungen und subjektive Kriterien von würdigen und unwürdigen Armen setzt.
Landes hat sich zum Ziel gesetzt, aus beziehungsgeschichtlichen Perspektiven den Ideenaustausch und die Wissenszirkulation zwischen führenden, transnational vernetzten Akteuren der Fürsorge zu beleuchten. Hierdurch zeigt er, wie die Diskurse in diesen Netzwerken Standardisierungsprozesse anstoßen und auf Maßstäbe einer modernen Fürsorge einwirken konnten. Insbesondere durch die Auswertung einer enormen Fülle an unterschiedlichen Materialien wie Kongresskorrespondenzen, Berichten und Publikationen wird er diesem Ziel mehr als gerecht. Bemerkenswert an der Arbeit ist darüber hinaus der weitgefasste Blick gerade auf die transnationalen Beziehungen jenseits der Staatsregierungen. Geprägt wurden die Netzwerke von einer durchaus elitären Expertengruppe, die das Ziel verfolgte, die Fürsorge zu professionalisieren und an die Stelle einer als willkürlich empfundenen Wohltätigkeit zu setzen. Das Ziel der Akteure dieser Netzwerke war stets auch, Einfluss auf ihre jeweiligen nationalen Politiken, sowohl auf die Gesetzgebung als auch auf die Fürsorgesysteme in der Praxis, zu nehmen.
Was die Arbeit bereichert, vermutlich aber den Rahmen gesprengt hätte, wäre eine tiefergehende, stärker theoriebasierte Analyse der nachgewiesenen Beziehungen sowie ihrer tatsächlichen Wirkung auf eine Reform der Fürsorgesysteme gewesen. Mit Ausnahme des vierten Teils bewegt sich die Arbeit damit eher auf einer beschreibenden Ebene. Allerdings bietet das Buch hier eine sehr gute Grundlage für künftige, auf regionale oder nationale Fürsorge-Politiken bezogene Forschungen, die den Einfluss der transnationalen Netzwerke im Konkreten in den Blick nehmen möchten.
Christopher Landes: Sozialreform in transnationaler Perspektive. Die Bedeutung grenzüberschreitender Austausch- und Vernetzungsprozesse für die Armenfürsorge in Deutschland (1880-1914) (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte; Bd. 236), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2016, 386 S., ISBN 978-3-515-11304-5, EUR 62,00
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